Vom Ende einer Geschichte
Beginn meines Ruhestands gekauft habe, oder ein zusätzlicher Spendenaufruf der Wohltätigkeitsorganisation, die ich ohnehin schon mit einem Dauerauftrag unterstütze. Darum vergaß ich den Umschlag, bis ich am selben Tag alles Altpapier in der Wohnung – das heißt auch den letzten Briefumschlag – fürs Recycling einsammelte. Wie sich herausstellte, enthielt der Umschlag einen Brief von einer Anwaltskanzlei, von der ich noch nie gehört hatte, Coyle, Innes & Black. Eine gewisse Eleanor Marriott schrieb mir »In der Nachlasssache Mrs Sarah Ford (verstorben)«. Es dauerte etwas, bis mir ein Licht aufging.
Wir leben mit so einfachen Annahmen, nicht wahr? Zum Beispiel, dass Erinnerungen Ereignisse plus Zeit sind. Dabei ist alles viel seltsamer. Wer hat noch mal gesagt, Erinnerung sei das, was wir meinten vergessen zu haben? Und es sollte uns doch klar sein, dass die Zeit nicht wie ein Fixativ wirkt, sondern wie ein Lösungsmittel. Es kommt uns aber nicht gelegen – es ist nicht nützlich für uns –, das zu glauben; es hilft uns nicht dabei, mit unserem Leben zurechtzukommen; darum ignorieren wir es.
Ich sollte meine Adresse bestätigen und eine Fotokopie meines Passes einschicken. Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass ich fünfhundert Pfund und zwei »Dokumente« geerbt hätte. Ich fand das sehr rätselhaft. Erstens, dass ich etwas von einem Menschen erbte, dessen Vornamen ich entweder nie gekannt oder aber vergessen hatte. Und fünfhundert Pfund schien mir ein sehr eigenartiger Betrag zu sein. Mehr als nichts, aber zu wenig für etwas. Vielleicht würde ich es verstehen, wenn ich wüsste, wann Mrs Ford ihr Testament gemacht hatte. Falls das allerdings lange her war, würde der Betrag jetzt einer viel höheren Summe entsprechen und wäre noch unverständlicher.
Ich bestätigte meine Existenz, meine Identität und meinen Wohnort und legte fotokopierte Belege dafür bei. Ich fragte an, ob ich das Datum des Testaments erfahren könne. Dann setzte ich mich eines Abends hin und versuchte, mir dieses rund vierzig Jahre zurückliegende, demütigende Wochenende in Chislehurst ins Gedächtnis zu rufen. Ich fahndete nach einem Moment, einem Vorfall oder einer Bemerkung, die einen Dank oder eine Belohnung verdient hätten. Aber mein Gedächtnis funktioniert mehr und mehr wie ein Mechanismus, der immer dieselben, scheinbar richtigen Daten ausspuckt, ohne sie groß zu variieren. Ich starrte in die Vergangenheit, ich wartete, ich versuchte mit verschiedenen Tricks, meine Erinnerungen auf eine andere Bahn zu lenken. Aber es brachte nichts. Ich war ein Mensch, der etwa ein Jahr lang mit der Tochter von Mrs Sarah Ford (verstorben) gegangen war, der von ihrem Mann von oben herab behandelt, von ihrem Sohn hochnäsig gemustert und von ihrer Tochter manipuliert worden war. Für mich damals eine schmerzliche Erfahrung, aber doch kaum etwas, was im Nachhinein eine mütterliche Entschuldigung in Form von fünfhundert Pfund erfordert hätte.
Und überhaupt war jener Schmerz ja nicht von Dauer gewesen. Ich habe, wie gesagt, einen gewissen Selbsterhaltungstrieb. Ich hatte Veronica erfolgreich aus meinen Gedanken, aus meiner Geschichte verdrängt. Als mich die Zeit dann allzu rasch in die mittleren Jahre katapultierte und ich darauf zurückblickte, wie sich mein Leben entwickelt hatte, und mit diesem besänftigenden, zerstörerischen »Was wäre gewesen wenn« über die nicht eingeschlagenen Wege nachsann, da malte ich mir nie aus – nicht mal als schlechtere, geschweige denn als bessere Variante –, wie es mit Veronica gewesen wäre. Annie ja, Veronica nein. Und ich habe die Jahre mit Margaret nie bereut, auch wenn wir uns scheiden ließen. Sosehr ich mich auch bemühte – was nicht sehr eifrig war –, ich fantasierte mir so gut wie nie ein wesentlich anderes Leben zusammen als das, was ich hatte. Ich finde nicht, dass das Selbstgefälligkeit ist; eher ein Mangel an Fantasie oder Ehrgeiz oder dergleichen. Die Wahrheit sieht vermutlich so aus, dass ich, jawohl, nicht verrückt genugbin, um etwas anderes zu tun als das, was ich schließlich mit meinem Leben angefangen habe.
Ich las den Brief der Anwältin nicht sofort. Stattdessen schaute ich mir die Anlage an, einen langen cremefarbenen Umschlag mit meinem Namen darauf. Eine Handschrift, die ich erst einmal im Leben gesehen hatte, die mir aber dennoch vertraut vorkam. Anthony Webster Esq. – die kleinen Schnörkel am Ende der Ober- und Unterlängen riefen Erinnerungen an einen
Weitere Kostenlose Bücher