Vom Ende einer Geschichte
waagerechten Schnitt verliert man womöglich das Bewusstsein und die Wunde schließt sich und man hat alles vermasselt.«
»Vielleicht ertrinkt man dann einfach.«
»Selbst wenn – das wäre ein Abgang zweiter Klasse gewesen«, sagte Alex. »Adrian hätte einen Abgang erster Klasse gewollt.« Genau: erstklassiges Examen, erstklassiger Selbstmord.
Er hatte sich in der Wohnung umgebracht, die er sich mit zwei anderen Doktoranden teilte. Die beiden waren übers Wochenende verreist, darum hatte Adrian viel Zeit für die Vorbereitungen. Er hatte seinen Brief an den Ermittlungsbeamten geschrieben, einen Zettel an die Badezimmertür gepinnt, auf dem » NICHT REINKOMMEN – POLIZEI RUFEN – ADRIAN « stand, sich ein Bad eingelassen, die Tür abgeschlossen, sich im heißen Wasser die Pulsadern aufgeschnitten und war verblutet. Anderthalb Tage später wurde er gefunden.
Alex zeigte mir einen Ausschnitt aus den Cambridge Evening News. »Tragischer Tod eines ›vielversprechenden‹ jungen Mannes«. Wahrscheinlich hat die Setzerei diese Überschrift immer fertig zur Hand. Die rechtsmedizinische Untersuchung hatte ergeben, dass sich Adrian Finn (22) »infolge einer Störung des geistigen Gleichgewichts« umgebracht habe. Ich erinnere mich,wie wütend mich dieser schablonenhafte Ausdruck machte: Ich hätte jeden Eid geschworen, dass Adrian der einzige Mensch war, dessen geistiges Gleichgewicht gegen jede Störung immun war. Doch in den Augen des Gesetzes war man per definitionem geisteskrank, wenn man sich umbrachte, zumindest zu dem Zeitpunkt, an dem man die Tat beging. Das Gesetz, die Gesellschaft und die Religion behaupteten übereinstimmend, es sei unmöglich, sich bei geistiger und körperlicher Gesundheit umzubringen. Vielleicht fürchteten diese maßgeblichen Instanzen, die Argumente des Selbstmörders könnten Wesen und Wert des Lebens infrage stellen, wie es eben der Staat organisierte, von dem der Ermittlungsbeamte bezahlt wurde? Und da man für zeitweise geisteskrank erklärt worden war, galten auch die Gründe, aus denen man sich umbrachte, als die eines kranken Geistes. Darum wurden Adrians Argumente samt den Verweisen auf Philosophen des Altertums und der Neuzeit bezüglich der Überlegenheit eingreifenden Handelns über das unwürdig-passive Geschehenlassen des Lebens wohl von niemandem groß beachtet.
Adrian hatte sich bei der Polizei für die durch ihn verursachten Unannehmlichkeiten entschuldigt und sich bei dem ermittelnden Beamten dafür bedankt, dass er seine letzten Worte bekannt machte. Des Weiteren wollte er eingeäschert werden und bat darum, seine Asche zu verstreuen, da auch die schnelle Zerstörung des Körpers eine aktive philosophische Entscheidung sei und besser als das untätige Warten auf eine natürliche Verwesung im Erdboden.
»Warst du da? Auf der Trauerfeier?«
»Nicht eingeladen. Colin auch nicht. Engster Familienkreis und so.«
»Was halten wir davon?«
»Nun ja, es ist wohl das Recht der Familie, das zu bestimmen.«
»Nein, nicht davon. Von seinen Gründen.«
Alex trank einen Schluck Bier. »Ich konnte mich nicht entscheiden, ob das verdammt eindrucksvoll ist oder eine verdammt blödsinnige Verschwendung.«
»Und hast du? Dich entschieden?«
»Na ja, es könnte beides sein.«
»Ich versuche zu begreifen«, sagte ich, »ob das ein in sich geschlossenes Konzept ist – ich meine nicht individualistisch, sondern etwas, was sozusagen nur Adrian betrifft –, oder ob das auch eine implizite Kritik an allen anderen bedeutet. An uns.« Ich sah Alex an.
»Na ja, es könnte beides sein.«
»Sag diesen Satz nicht noch mal.«
»Ich wüsste gern, was seine Philosophie-Tutoren davon halten. Ob sie sich irgendwie verantwortlich fühlen. Schließlich haben sie seinen Geist ausgebildet.«
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Etwa drei Monate vor seinem Tod. Genau da, auf deinem Platz. Darum hab ich diese Bar vorgeschlagen.«
»Er wollte also nach Chislehurst. Wie wirkte er auf dich?«
»Fröhlich. Glücklich. Genau wie immer, nur mehr im Einklang mit sich selbst. Beim Abschied hat er gesagt, er sei verliebt.«
Dieses verfluchte Weibsbild, dachte ich. Wenn es auf dieser Welt eine Frau gab, in die sich ein Mann verlieben und gleichzeitig meinen konnte, er müsse das Geschenk des Lebens zurückweisen, dann war das Veronica.
»Was hat er über sie gesagt?«
»Nichts. Du weißt doch, wie er war.«
»Hat er dir erzählt, dass ich ihm in einem Brief geschrieben habe, er könne sich
Weitere Kostenlose Bücher