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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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sich ab. Am Ende fallen wir alle in dieselbeKategorie, die der Nichtjungen. Mir persönlich hat das nie viel ausgemacht.
    Doch es gibt Ausnahmen von der Regel. Für manche Leute verschwinden die in der Jugend festgelegten Zeitdifferenzen nie so ganz: Der Ältere bleibt der Ältere, selbst wenn beide schon sabbernde Graubärte sind. Für manche Leute bedeutet ein Vorsprung von, sagen wir, fünf Monaten, dass der – oder die – eine sich verstockt bis in alle Ewigkeit für klüger und gescheiter hält als den anderen, obwohl alles das Gegenteil beweist. Vielleicht sollte ich lieber sagen, weil alles das Gegenteil beweist. Weil für jeden objektiven Beobachter klar auf der Hand liegt, dass sich die Waage jetzt zugunsten des geringfügig Jüngeren neigt, klammert sich der – oder die – andere umso starrsinniger, umso rigoroser an seine – ihre – vermeintliche Überlegenheit. Umso neurotischer.
    Ich höre übrigens immer noch viel Dvořák. Nicht unbedingt die Symphonien; inzwischen sind mir die Streichquartette lieber. Tschaikowski aber ist den Weg all jener Genies gegangen, die in der Jugend faszinieren, in den mittleren Jahren noch einen letzten Rest von Anziehungskraft behalten, aber später, wenn nicht peinlich, so doch irgendwie weniger relevant erscheinen. Damit will ich nicht sagen, dass sie recht hatte. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand ein Genie ist, das die Jugend faszinieren kann. Eher ist etwas gegen eine Jugend einzuwenden, die sich von einem Genie nicht faszinieren lässt. Nebenbei bemerkt, halte ich die Filmmusik zu Ein Mann und eine Frau nicht für ein geniales Werk. Hielt ich schon damals nicht. Andererseits muss ich manchmal an Ted Hughes denken und darüberlächeln, dass ihm tatsächlich nie die Tiere ausgegangen sind.
    Mit Susie verstehe ich mich gut. Ganz gut jedenfalls. Aber die jüngere Generation hat nicht mehr das Bedürfnis oder fühlt sich auch nur verpflichtet, ständig in Kontakt zu bleiben. Zumindest nicht so, dass »in Kontakt bleiben« so etwas hieße wie »sich sehen«. Für Dad reicht auch eine E-Mail – schade, dass er nicht gelernt hat, eine SMS zu schreiben. Ja, er ist jetzt im Ruhestand, pusselt weiter an seinen mysteriösen »Projekten« herum, wahrscheinlich führt er nie etwas zu Ende, aber das hält wenigstens das Gehirn in Schwung, besser als Golf, und ja, eigentlich wollten wir letzte Woche mal vorbeischauen, aber dann ist uns was dazwischengekommen. Hoffentlich kriegt er nicht Alzheimer, das ist eigentlich meine größte Sorge, weil, nun ja, Mama wird ihn wohl kaum wieder bei sich aufnehmen, oder? Nein: Jetzt übertreibe ich, ich zeichne ein falsches Bild. So denkt Susie nicht, da bin ich mir sicher. Wenn man allein lebt, hat man bisweilen solche Anwandlungen von Selbstmitleid und Paranoia. Susie und ich verstehen uns prächtig.
    Eine Freundin von uns – das sage ich immer noch instinktiv, obwohl Margaret und ich nun schon länger geschieden sind, als wir verheiratet waren – hatte einen Sohn, der in einer Punk-Rockband spielte. Ich fragte sie, ob sie mal ein Stück von ihnen gehört habe. Sie nannte eins mit dem Titel »Every Day is Sunday«. Ich erinnere mich, dass ich erleichtert lachte, weil die alte pubertäre Langeweile von einer Generation zur anderen gleich bleibt. Und weil man zu demselben sarkastischen Witz greift, um dieser Langeweile zu entfliehen. »Every Day isSunday« – da fühlte ich mich zurückversetzt in die Jahre meiner eigenen Stagnation und des furchtbaren Wartens darauf, dass das Leben beginnt. Ich fragte unsere Freundin, wie die anderen Stücke der Band hießen. Nein, antwortete sie, das ist ihr Stück, ihr einziges Stück. Wie geht es denn weiter?, fragte ich. Wie meinst du das? Na ja, wie heißt die nächste Zeile? Du kapierst das offenbar nicht, sagte sie. Das ist das Stück. Sie wiederholen einfach nur diese Zeile, immer wieder, bis das Stück von selbst zu Ende geht. Ich erinnere mich, dass ich lächelte. »Every Day is Sunday« – das wäre doch keine schlechte Grabinschrift?
    Es war so ein langer weißer Umschlag, bei dem Name und Adresse in einem Fenster erscheinen. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich hab es nie eilig, so einen Umschlag zu öffnen. Früher einmal bezeichneten solche Briefe eine neue schmerzliche Etappe meiner Scheidung – vielleicht kommt mein Unbehagen daher. Heutzutage ist womöglich eine Steuerbescheinigung für die erbärmlichen Erträge der paar Aktien darin, die ich zu

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