Vom Ende einer Geschichte
seine moralischen Prinzipien sonst wohin stecken?«
»Nein, aber es wundert mich nicht.«
»Was, dass ich ihm das geschrieben habe oder dass er dir nichts davon erzählt hat?«
»Nun ja, es könnte beides sein.«
Ich versetzte Alex einen leichten Puff, gerade genug, um sein Bier zu verschütten.
Zu Hause hatte ich kaum Zeit gehabt, über das eben Gehörte nachzudenken, da musste ich auch schon die Fragen meiner Mutter abwehren.
»Was hast du herausgefunden?«
Ich erzählte ihr ein wenig von dem Wo und Wie.
»Das muss sehr unangenehm gewesen sein für die armen Polizisten. Was die alles machen müssen. Hatte er Probleme mit einem Mädchen?«
Fast hätte ich gesagt: Natürlich – er ging doch mit Veronica. Stattdessen antwortete ich nur: »Alex sagt, bei ihrem letzten Treffen sei er glücklich gewesen.«
»Warum hat er es dann getan?«
Ich gab ihr eine Kurzfassung der Kurzfassung und überging die Namen der einschlägigen Philosophen. Ich versuchte zu erklären, was es mit der Zurückweisung eines unerwünschten Geschenks auf sich hatte, mit Handeln gegenüber passivem Geschehenlassen.
»Siehst du, ich hatte doch recht.«
»Wie das, Mama?«
»Er war tatsächlich zu intelligent. Wer so intelligent ist, der kann sich in alles Mögliche hineinargumentieren. Der vergisst einfach den gesunden Menschenverstand. Seine Intelligenz hat ihn aus der Bahn geworfen, darum hat er das getan.«
»Ja, Mama.«
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Das heißt, du stimmst mir zu?«
Ich gab keine Antwort, sonst hätte ich die Beherrschung verloren.
In den darauffolgenden Tagen versuchte ich, Adrians Tod von allen Seiten zu durchdenken. Ich selbst hätte kaum einen Abschiedsbrief von ihm erwarten können, aber an Colins und Alex’ Stelle wäre ich enttäuscht gewesen. Und was sollte ich jetzt von Veronica halten? Adrian hatte sie geliebt, und doch hatte er sich umgebracht: Wie war das zu erklären? Gewöhnlich verspricht die erste Liebe, selbst wenn sie nicht gut ausgeht – vielleicht gerade wenn sie nicht gut ausgeht –, dass wir nun endlich wüssten, was das Leben lebenswert macht und rechtfertigt. Und obwohl spätere Jahre diese Ansicht so verändern können, dass manche sie ganz aufgeben, ist nichts mit dem Moment zu vergleichen, in dem die Liebe zum ersten Mal zuschlägt. Stimmt doch?
Aber für Adrian stimmte das nicht. Vielleicht, wenn es eine andere Frau gewesen wäre … vielleicht auch nicht – Alex hatte Adrians Hochstimmung bei ihrer letzten Begegnung bezeugt. War in den Monaten danach etwas Furchtbares geschehen? Aber dann hätte Adrian das bestimmt zu erkennen gegeben. Er war der Wahrheitssucher und Philosoph unter uns: Wenn das seine erklärten Gründe waren, dann waren das seine wahren Gründe.
Veronica warf ich anfangs vor, dass sie Adrian nicht vor seiner Tat bewahrt hatte, aber später tat sie mir leid: Da hatte sie sich nun triumphal verbessert, und dann so was. Sollte ich ihr mein Beileid aussprechen? Aber sie würde mich nur für einen Heuchler halten. Wenn ich mich beiihr meldete, würde sie entweder nicht antworten, oder sie würde alles so verdrehen, dass ich am Ende nicht mehr klar denken könnte.
Irgendwann konnte ich doch wieder klar denken. Das heißt, ich konnte Adrians Gründe verstehen, sie respektieren und ihn bewundern. Er war intelligenter und seinem Wesen nach rigoroser als ich; er dachte logisch und handelte dann nach dem, was sich aus logischem Denken ergab. Wir anderen hingegen tun, fürchte ich, meist das Gegenteil: Wir treffen eine instinktive Entscheidung und bauen uns dann eine Infrastruktur von Argumenten auf, um diese Entscheidung zu rechtfertigen. Und das Ergebnis nennen wir gesunden Menschenverstand. Ob ich glaubte, Adrians Tat sei implizit eine Kritik an uns anderen? Nein. Zumindest bin ich mir sicher, dass er sie nicht so meinte. Adrian konnte auf andere anziehend wirken, aber sein Verhalten ließ nie erkennen, dass er sich Jünger wünschte; er glaubte daran, dass jeder selbst denken sollte. Ob er »Freude am Leben« gehabt hätte, wie die meisten von uns es zumindest versuchen, wenn er am Leben geblieben wäre? Vielleicht; aber er hätte auch Schuld und Reue empfinden können, weil er es nicht geschafft hatte, seine Handlungen mit seinen Argumenten in Übereinstimmung zu bringen.
Und das ändert alles nichts daran, dass es dennoch, mit Alex’ Worten, eine verdammt blödsinnige Verschwendung war.
Ein Jahr darauf schlugen Colin und Alex ein Wiedersehen vor. Am
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