Vom Himmel das Helle
Marks Stimme hatte mich nachsichtig gestimmt. War das Stressabbau à la Lea, ein kluger Schachzug, um nicht komplett abzudriften?
Doch jetzt, da Mark als reale Person, als Mensch mit Haut, Knochen und einem Gesicht vor mir auferstanden war, konnte ich mir die kleine Notlüge nicht länger gestatten. Jetzt musste ich es glauben. Mark, den Mann ohne Nachnamen gab es tatsächlich. Er lebte, wenn auch auf seltsam verstörende Art. Er lebte, obwohl er tot war. Wie war ich nur auf die Idee verfallen, ich hätte ihn mir eingebildet und die ganze Zeit mit mir selbst gesprochen? Ich fuhr die Straßen entlang, ohne zu bemerken, wo ich mich befand.
Es gab Tote, die mit einem kommunizierten, weil sie die Aufgabe übernommen hatten, einen besser zu machen, als man bis dahin gewesen war. Ja, so musste es sein, so hing alles zusammen. Und es war ein Wunder, dass ich in eine solche Situation verwickelt war, grübelte ich weiter.
Zum wiederholten Mal fantasierte ich mir zusammen, wie es wäre, wenn ich mit Valerie über Mark sprach? Nach einer Kinovorstellung oder einem Plausch bei mir oder ihr zuhause. Ein oder zwei Drinks vorher waren vermutlich Grundvoraussetzung, um ein Thema wie dieses – hey, ich hab mich in einen attraktiven männlichen Geist verliebt – überhaupt in Erwägung zu ziehen. Von detaillierten Ausführungen ganz abgesehen.
Vielleicht hätte Valerie mir die Geschichte mit Mark sogar abgenommen, denn sie war eine romantische Träumerin und konnte sich immer eine ganze Menge mehr vorstellen als ich. Außerdem wusste sie, dass ich nicht zu komplizierten Lebensmodellen neigte. Ich hätte mich nie freiwillig in einen Geist verliebt, mit dem Sex niemals möglich war. Das spräche aus ihrer Sichtweise für die Wahrheit der Story. Doch ich verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Nein, niemals würde mir irgendjemand meine Geschichte abnehmen. Und doch passierte sie mir. Tag für Tag mehr.
Ich war gerade dabei, den Schlüssel umzudrehen, als mein Vater die Eingangstür aufriss und ich den Halt verlor. Ich stolperte in meine Wohnung und in meines Vaters Arme. Von der Wucht meiner plötzlichen körperlichen Anwesenheit überrascht, trat er einen Schritt zurück. Geistesgegenwärtig stützte ich mich gerade noch an der Wand neben dem Schlüsselbord ab, bevor ich fast den Teppich geküsst hätte. Mein Vater, der selbst vollkommen überrumpelt war, blickte mich erstaunt und entsetzt zugleich an. Als er sich gefangen hatte, begann er zu sprechen. »Die Wissenschaft, richtig verstanden, heilt den Menschen von seinem Stolz; denn sie zeigt ihm seine Grenzen. Hast du diesen Satz von Albert Einstein jemals zu Ohren bekommen, Lea?«
»Was ist das denn für eine Begrüßung?«, murmelte ich, nachdem ich wieder anständig auf die Beine gekommen war, den Schlüssel vom Schloss gezogen und meine Tasche auf die Anrichte neben der Küchentür geworfen hatte. Ich war zu müde und auch nicht ganz bei der Sache, um etwas Handfestes entgegenzuhalten.
»Dann will ich es mit den Worten Galileo Galileis ausdrücken: ›Man kann niemanden etwas lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu finden.‹ Verstehst du mich jetzt?«
»Papa!«, ich funkelte ihn an. »Sag’s mit eigenen Worten. Vielleicht versteh ich dich dann.«
Mein Vater hob abwehrend die Hände, ließ sie dann aber wieder sinken und sprach weiter, inzwischen in säuerlichem Tonfall. »Ganz wie du meinst, Lea. Du bist Wissenschaftlerin. Und du hast von uns, von deiner Mutter und mir, Manieren gelernt. Ganz gute Voraussetzungen für ein nicht nur passables, sondern sogar vernünftiges Leben, nehme ich mal an. Ein Leben, das man im Austausch mit anderen Menschen führt.«
»Klartext, Papa!«, warf ich ein.
»Klartext!«, wiederholte er, schaltete einen Gang höher und gab Gas. »Ich bin vor Angst fast umgekommen. Du hättest anrufen können, dann hätte ich gewusst, dass du zumindest noch atmest. Was ja schon mal etwas ist, wenn man deinen Beruf berücksichtigt.« Seine Worte überschlugen sich wie kleine, konfuse Wellen. »Ganz abgesehen davon hätte ich mich mit der strukturellen Stabilität eines Kunstwerks beschäftigen müssen, was ich natürlich nicht konnte, weil ich ständig darüber nachgrübeln musste, was mit dir geschehen sein könnte. Einer Notfallpsychologin, die sich vielleicht selbst in einen Notfall hineinmanövriert hatte. Ich saß also nicht über der Acrylharzlösung, die ich für meinen künstlerischen Notfall auserkoren hatte,
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