Vom Himmel in Die Traufe
momentan ein ziemliches Chaos der Gefühle.«
Ragnar war übergangslos in seine alte Rolle als Butler geschlüpft, auch wenn er Hermanni nicht mehr siezte.
Als sie zur Tagesordnung und in die Stadt zurückkehrten, stellten sie auf einmal fest, dass Hermanni gar keinen Reisepass besaß. Ragnar faxte an den Landpolizeikommissar von Inari und erhielt bald darauf aus dessen Büro die Antwort, dass es vom Zeitpunkt der Beantragung zwei Wochen dauern würde, bis das Dokument ausgestellt war. Also marschierten sie in ein Fotostudio, und anschließend musste Hermanni nochmals nach Ivalo fliegen. Ragnar blieb diesmal in Rovaniemi, um den Aufstandsplan ins Reine zu schreiben und auf Disketten zu speichern. In dieser Form würde sich der Text leichter bearbeiten, sicherer handhaben und vor allem auch bequemer transportieren lassen.
Als Hermanni von seinem Ausflug zurückkehrte, berichtete er, dass er den Pass Mitte August bekommen würde. Bei seinem Besuch im Kommissariat hatte man ihn auch wegen des Brandes in seiner Hütte in Porttipahta vernommen. Die Kemijoki AG als Eigentümer verlangte von Hermanni eine Entschädigung für den Verlust. Hermanni als der Mieter hatte die Forderung zurückgewiesen mit dem Hinweis, dass es Brandstiftung gewesen sei, an der er keinerlei Anteil habe.
Ragnar hatte einen fertigen Vorschlag für das Programm der nächsten Tage. Sie würden zum Opernfestival nach Savonlinna fahren. Bei derselben Gelegenheit könnten sie sich auch die Höhlengalerie Retretti in Punkaharju und das unweit davon neu eröffnete Waldzentrum Lusto ansehen, das mit seiner thematischen Ausrichtung speziell den Holzfäller interessieren würde, wie Ragnar annahm. Hermanni akzeptierte den Plan, und so machten sie sich nach Savonlinna auf, wo es Ragnar gelang, Karten für eine Aufführung von Verdis machtvoller Aida zu besorgen.
Hermanni besaß für den Opernbesuch keinen Anzug, sondern nur eine Kombination aus Sakko und Hose. Ragnar beschloss, ihm bei nächster Gelegenheit zwei Anzüge und mindestens einen Smoking, wenn nicht gar einen Frack zu besorgen. Nun, wie auch immer, diesmal musste sich auch Ragnar alltäglicher kleiden, als er es sonst bei Opernbesuchen tat. Er trug einen mittelgrauen Anzug und dazu eine etwas dunklere Fliege. Hermanni musste anerkennen, dass sein Butler herrschaftliche Eleganz ausstrahlte, die grauen Schläfen und der graue Anzug passten Ton in Ton zusammen. Die für einen Oberst typische gerade Haltung unterstrich den angenehmen Gesamteindruck. Instinktiv streckte auch Hermanni sich, als sie in den Hof der Burg Olavinlinna traten und ihre Plätze unter dem Regendach einnahmen, um die Oper zu genießen.
Hermanni Heiskari war zum ersten Mal in seinem Leben in der Oper. Unbewusst hatte er diese Art von Gebrüll stets abgelehnt, aber als er jetzt die machtvolle Aufführung sah und hörte, war er total begeistert. Die Handlung war faszinierend einfach. Die wunderbare äthiopische Prinzessin Aida kommt als Sklavin nach Ägypten. Hochgestellte ägyptische Männer verlieben sich in das Mädchen. Die Ägypter machen einen Feldzug nach Äthiopien, wo Aidas Vater gefangen genommen wird. Es folgen allerlei Intrigen, und am Ende wird der hochgestellte Geliebte des Mädchens zum Tode verurteilt, mit ihm schließt sich auch die unglückliche Sklavenprinzessin in die Grabkammer ein.
Hermanni klatschte sich anschließend die Hände wund, so sehr hatte ihn die Aufführung beeindruckt. Ein wenig verbittert beklagte er, dass ihm nicht schon früher, in seiner Jugend, solch ein Erlebnis geboten worden war. Garantiert wäre er nicht nur fliegender Geselle, sondern auch Opernfreund geworden, aber in der Wildmark oben im Norden gab es nun mal keine Operngastspiele.
Am nächsten Tag fuhren sie mit dem Taxi nach Punkaharju, wo sie sich unter die Erde begaben, um sich die Sammlungen im Kunstzentrum Retretti anzusehen. In den hohen Grotten waren russische Kostbarkeiten aus der Zarenzeit ausgestellt. Gold, Diamanten, insgesamt ein Glanz, dass es dem Besucher den Atem nahm.
Hermanni erklärte Ragnar die anderen aktuellen Sammlungen, Gemälde und Grafiken, denn er hatte sich ja in seiner Jugend mit bildender Kunst befasst und alles an finnischsprachiger Fachliteratur verschlungen, was er damals, in den Sechzigerjahren, in die Hände bekommen hatte. Seine Rede wimmelte von Fachtermini, die er sich einst in seinem Eifer eingeprägt hatte.
Am Nachmittag vertieften sie sich ins Waldzentrum Lusto. Es war eine riesige
Weitere Kostenlose Bücher