Vom Himmel in Die Traufe
hören war. Verdutzt und wütend rannte Lena ins Zelt, um Hermanni zu wecken.
Es zeigte sich, dass sich in der Nacht und am Morgen mindestens fünfzig Ornithologen ans Flussufer geschlichen hatten, echte Freaks, die den heißen Tipp bekommen hatten, dass ein überaus seltener Grünschwanzhäher aufgetaucht war. Ständig trafen weitere Männer und auch ein paar Frauen ein. Die weiteste Anfahrt hatten die Leute aus Oulu gehabt, aber es war zu erwarten, dass am Vormittag noch Ornithologen aus Helsinki und Turku dazukämen, dass die Esten und Südschweden bis Mittag und die Dänen gegen Abend eintreffen würden. Die mit Tarnanzügen und Gummistiefeln bekleideten Vogelfans liefen mit glühenden Blicken herum und fragten, wann jener Häher zuletzt gesichtet worden sei und wo er sich jetzt verstecke.
Da blieb dem Paar nichts anderes übrig, als aufzustehen und sich anzuziehen. Nach einem leichten Feldfrühstück bestellte Lena ein Taxi und fuhr mit Hermanni ins Hotel zurück. Dort traf ein endloser Strom von Autos aus dem Süden ein, andere Ankömmlinge hatten sich vom Flughafen Ivalo aus ein Taxi genommen, denn dort waren mit der Frühmaschine hundert weitere Freaks gelandet.
Frau Lena Lundmark konstatierte, dass der Verlobungsurlaub somit zu Ende sei. Eigentlich zog es sie auch bereits wieder nach Maarianhamina und zu ihren Geschäften. So fuhren die drei denn im Taxi nach Ivalo, flogen von dort nach Rovaniemi und übernachteten im Pohjanhovi . Am nächsten Morgen kaufte Lena einen leistungsfähigen Laptop und dazu ein Modem, einen Drucker sowie ein Mobiltelefon. Da Hermanni Heiskari noch nie solche Geräte bedient hatte, nahm Lena ihren fliegenden Gesellen und Guerillaführer buchstäblich bei der Hand, um ihm einen Schnellkurs in Datentechnik zu geben. Bis zum Lunch war all das erledigt, und als sie sich abends im Restaurant trafen, um Lenas Abschied zu feiern, hatte Ragnar bereits Vorschläge für Tages- und Wochenprogramme für die kommenden Reisemonate gespeichert. Er hatte mehrere Alternativen ausgedruckt, die er Lena und Hermanni übergab, damit sie sich damit vertraut machen konnten. Nun galt es, einen Ablaufplan für den Herbst, den Winter und das Frühjahr bis hin zum nächsten Frühsommer zu erstellen, denn dann wäre das Prämienjahr vorbei, das Hermanni Heiskari sich verdient hatte, als er Frau Lundmark auf dem trügerischen Eis des Inarisees das Leben rettete.
Die drei saßen im Hotelrestaurant an einem Fenstertisch mit Blick auf den ruhig dahingleitenden Kemijoki, von dem sie nur der angrenzende Park mit einem schmalen Streifen Rasen trennte. Hermanni betrachtete wehmütig die Strömung. Als Lena ihn fragte, was ihn so traurig mache, sagte er leise:
»Hab nur gerade überlegt, wie viele Millionen Stämme, die ich selber gefällt habe, hier wohl schon vorbeigeschippert sind. Eigentlich hätte man sich das Leben auch leichter machen können.«
Sie bestellten die viel gerühmte »Nördliche Rhapsodie«, und während sie warteten, studierten sie Ragnars Vorschläge für das Programm der kommenden Monate.
Ragnar hatte mehrere Seiten mit verschiedenen Alternativen beschrieben und sie auf A4-Bögen ausgedruckt. Da sie zehn Monate Zeit zur Verfügung hatten, könnten sie ein sehr intensives allgemeinbildendes Programm absolvieren, erklärte er. Er plante, sich zusammen mit Hermanni der bildenden Kunst, der Architektur, der Kulturgeschichte, der Musik, der Literatur und der Gastronomie zu widmen – und all das erforderte natürlich ausgedehnte Reisen.
An dieser Stelle warf Hermanni ein, dass seinetwegen nicht beim Urschleim angefangen werden musste. Als er ein junger Bursche gewesen war, hatte er sich intensiv mit bildender Kunst beschäftigt, hatte bei einem professionellen Maler in Rovaniemi studiert, außerdem hatte er auch einen Roman geschrieben, der allerdings nicht veröffentlicht worden war, und zwar aus dem unbegreiflichen Grunde, dass er, Hermanni, nicht eingewilligt hatte, die vom Verleger vorgeschlagenen geringfügigen Veränderungen im Manuskript vorzunehmen. Hermanni hatte letztlich Erfahrungen in zwanzig verschiedenen Berufen, er war sogar einen Sommer lang Redakteur bei der Regionalzeitung Pohjolan Sanomat gewesen und wäre wohl beim Journalismus hängen geblieben, wenn er nicht über Ahti Karjalainens Besuch in Kemi einen so oberflächlichen Artikel geschrieben hätte. Pohjolan Sanomat war zu jener Zeit das Organ der Agrarunion und Ahti Karjalainen Repräsentant ebendieser Partei und
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