Vom Kriege
Handeln, welches im Interesse des Nichthandelns geschieht. Wo keine Entscheidung gesucht und erwartet werden kann, da ist kein Grund, etwas aufzugeben, denn dies könnte nur geschehen, um sich damit bei der Entscheidung Vorteile zu erkaufen. Die Folge ist: daß der Verteidiger alles oder wenigstens soviel als möglich behalten, d. h. decken, der Angreifende aber soviel, als ohne Entscheidung geschehen kann, einnehmen, d. h. sich soweit als möglich ausbreiten will. Wir haben es hier nur mit dem ersteren zu tun.
Überall, wo der Verteidiger mit seinen Streitkräften nicht ist, kann der Angreifende in Besitz treten, und dann ist der Vorteil des Abwartens für ihn; es entsteht also das Streben, das Land überall mittelbar zu decken und es darauf ankommen zu lassen, ob der Gegner die zur Deckung aufgestellten Streitkräfte angreifen wird.
Ehe wir nun die Eigentümlichkeiten der Verteidigung näher angeben, müssen wir, aus dem Buche vom Angriff, diejenigen Gegenstände entlehnen, welchen derselbe im Fall einer nichtgesuchten Entscheidung, nachzustreben pflegt. Es sind folgende:
[500] 1. Die Einnahme eines beträchtlichen Landstrichs, soweit dies ohne entscheidendes Gefecht zu erreichen ist.
2. Die Eroberung eines bedeutenden Magazins unter eben der Bedingung.
3. Die Eroberung einer nicht gedeckten Festung. Zwar ist eine Belagerung ein mehr oder weniger großes Werk, was oft große Anstrengungen kostet, aber es ist eine Unternehmung, die nichts von der Natur einer Katastrophe hat. Man kann im schlimmsten Fall davon ablassen, ohne dabei einen bedeutenden positiven Verlust zu machen.
4. Endlich ein glückliches Gefecht von einiger Bedeutung, wobei aber nicht viel gewagt und folglich nichts Großes gewonnen werden kann; ein Gefecht, was nicht als folgereicher Knoten eines ganzen strategischen Verbandes, sondern um seiner selbst willen, wegen der Trophäen, wegen der Waffenehre da ist. Für einen solchen Zweck liefert man natürlich das Gefecht nicht um jeden Preis, sondern erwartet entweder vom Zufall die Gelegenheit dazu oder sucht sie durch Geschicklichkeit herbeizuführen.
Diese vier Gegenstände des Angriffs bringen nun beim Verteidiger folgende Bestrebungen hervor:
1. Die Festungen zu decken, indem er sie hinter sich nimmt.
2. Das Land zu decken, indem er sich ausdehnt.
3. Wo die Ausdehnung nicht zureicht, durch Seitenmärsche sich schnell vorzulegen.
4. Sich dabei vor nachteiligen Gefechten zu hüten.
Daß diese drei ersten Bestrebungen die Absicht haben, dem Gegner die Initiative zuzuschieben und vom Abwarten den äußersten Nutzen zu ziehen, ist klar, und diese Absicht ist so tief in der Natur der Sache gegründet, daß es eine große Torheit wäre, sie von vorherein zu mißbilligen. Sie muß notwendig in dem Maße Platz greifen, als die Entscheidung weniger zu erwarten ist, und sie macht in allen solchen Feldzügen immer das Wesen der tiefsten Fundamente aus, wenn auch auf der Oberfläche des Handelns, in den kleinen, nicht entscheidenden Akten, oft ein ziemlich lebhaftes Spiel der Tätigkeit sein kann.
Hannibal so gut wie Fabius, und Friedrich der Große so gut wie Daun haben diesem Prinzip gehuldigt, sooft sie eine Entscheidung weder suchten noch erwarteten. Das vierte Bestreben dient den drei andern zum Korrektiv, ist die Conditio sine qua non derselben.
Wir wollen jetzt einige nähere Betrachtungen über diese Gegenstände anstellen.
Daß man sich mit dem Heer vor eine Festung stellt, um sie vor dem feindlichen Angriff zu schützen, hat auf den ersten Anblick etwas Widersinniges, es scheint eine Art von Pleonasmus zu sein, denn Festungswerke werden ja gebaut, damit sie dem feindlichen Angriff selbst widerstehen. Gleichwohl [501] sehen wir diese Maßregel tausend- und abermals tausendmal vorkommen. So ist es aber mit der Kriegführung, daß die gewöhnlichsten Dinge oft am unverständlichsten zu sein scheinen. Wer könnte aber den Mut haben, auf den Grund dieses anscheinenden Widerspruchs jene tausend und abermals tausend Fälle für ebensoviel Fehler zu erklären. Die ewig wiederkehrende Form beweist, daß es einen tiefliegenden Grund dafür geben muß. Dieser Grund aber ist kein anderer als der oben angegebene, in der moralischen Inertie liegende.
Stellen wir uns vor unserer Festung, so kann der Feind diese nicht angreifen, wenn er unsere Armee nicht vorher schlägt; eine Schlacht aber ist eine Entscheidung; sucht er diese nicht, so wird er die Schlacht nicht liefern, und wir bleiben ohne
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