Vom Kriege
wohlan, es ist höchst wahrscheinlich sein Kulminationspunkt. Die Flugkraft ist dann zu Ende, und wenn der Gegner nicht niedergeworfen ist, so wird höchstwahrscheinlich nichts daraus werden.
Alles, was er zur intensiven Ausbildung seines Angriffs mit Eroberung von Festungen, Pässen, Provinzen tut, ist zwar noch ein langsames Vorschreiten, aber nur ein relatives, kein absolutes mehr. Der Feind ist nicht mehr auf der Flucht, er rüstet sich vielleicht schon zu erneuertem Widerstand, und es ist also schon möglich, daß, obgleich der Angreifende noch intensiv vorwärtsschreitet, der Verteidiger, indem er es auch tut, schon täglich etwas über ihn gewinnt. Kurz, wir kommen darauf zurück: es gibt in der Regel nach einem notwendigen Halt keinen zweiten Anlauf.
Die Theorie fordert also nur, daß, solange die Idee besteht, den Feind niederzuwerfen, rastlos gegen ihn vorgeschritten werde; gibt der Feldherr [628] dieses Ziel auf, weil er die Gefahr dabei zu groß findet, so tut er recht, innezuhalten und sich auszubreiten. Die Theorie tadelt dies nur, wenn er es tut, um dadurch zum Niederwerfen des Gegners geschickter zu werden.
Wir sind nicht so töricht, zu behaupten, daß es kein Beispiel von Staaten gäbe, die nach und nach aufs äußerste gebracht worden wären. Erstlich ist der von uns aufgestellte Satz keine absolute Wahrheit, von der eine Ausnahme unmöglich wäre, sondern er gründet sich nur auf den wahrscheinlichen und gewöhnlichen Erfolg; sodann muß man unterscheiden, ob der Untergang eines Staates nach und nach sich historisch zugetragen hat oder ob er gleich das Ziel des ersten Feldzuges gewesen war. Nur von diesem Fall sprechen wir hier, denn nur in ihm findet jene Spannung der Kräfte statt, die den Schwerpunkt der Last entweder überwältigt oder in Gefahr ist, von ihm überwältigt zu werden. Wenn man sich im ersten Jahre einen mäßigen Vorteil verschafft, zu diesem im folgenden einen andern hinzufügt und so nach und nach langsam gegen das Ziel vorschreitet, so findet sich nirgends eine eminente Gefahr, aber dafür ist sie auf viele Punkte verteilt. Jeder Zwischenraum von einem Erfolg zum andern gibt dem Feinde neue Aussichten; die Wirkungen des früheren Erfolges haben auf den späteren einen sehr geringen Einfluß, oft keinen, oft einen negativen, weil der Feind sich erholt oder gar zu größerem Widerstand entflammt wird, oder neue Hilfe von außen bekommt, während da, wo alles in einem Zuge geschieht, der gestrige Erfolg den heutigen mit sich fortreißt, der Brand am Brande sich entzündet. Wenn es Staaten gibt, die durch sukzessive Stöße überwältigt worden sind, und wo sich also die Zeit dem Verteidiger, dessen Schutzheiliger sie ist, verderblich gezeigt hat, - wie unendlich viel zahlreicher sind die Beispiele, wo die Absicht des Angreifenden darüber ganz verfehlt worden ist. Man denke nur an den Erfolg des Siebenjährigen Krieges, wo die Österreicher das Ziel mit soviel Gemächlichkeit, Behutsamkeit und Vorsicht zu erreichen suchten, daß sie es ganz verfehlten.
Bei dieser Ansicht können wir also gar nicht der Meinung sein, daß die Sorge für ein gehörig eingerichtetes Kriegstheater dem Trieb nach vorwärts immer zur Seite stehen und ihm gewissermaßen das Gleichgewicht halten müsse, sondern wir sehen die Nachteile, die daraus erwachsen, als ein unvermeidliches Übel an, welches erst dann Rücksicht verdient, wenn uns nach vornhin keine Hoffnung mehr bleibt.
Bonapartes Beispiel vom Jahre 1812, weit entfernt, uns von unserer Behauptung zurückzuschrecken, hat uns vielmehr darin bestärkt.
Sein Feldzug ist nicht mißraten, weil er zu schnell und zu weit vorgedrungen ist, wie die gewöhnliche Meinung geht, sondern weil die einzigen Mittel zum Erfolg fehlschlugen. Das russische Reich ist kein Land, was man förmlich erobern, d. h. besetzt halten kann, wenigstens nicht mit den Kräften jetziger europäischer Staaten und auch nicht mit den 500000 Mann, die Bonaparte dazu anführte. Ein solches Land kann nur bezwungen werden durch eigene Schwäche und durch die Wirkungen des inneren Zwiespaltes. Um auf diese [629] schwachen Stellen des politischen Daseins zu stoßen, ist eine bis ins Herz des Staates gehende Erschütterung notwendig. Nur wenn Bonaparte mit seinem kräftigen Stoß bis Moskau hinreichte, durfte er hoffen, den Mut der Regierung und die Treue und Standhaftigkeit des Volkes zu erschüttern. In Moskau hoffte er den Frieden zu finden, und dies war das einzige vernünftige
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