Vom Kriege
nur im Kriege und unter großen Feldherren, aber dauern kann er freilich, wenigstens mehrere Generationen hindurch, auch unter mittelmäßigen und bei beträchtlichen Friedensepochen.
Mit diesem erweiterten und veredelten Bandengeist einer narbenvollen, abgehärteten Kriegerrotte soll man nicht das Selbstgefühl und die Eitelkeit stehender Heere vergleichen, die bloß durch den Leim eines Dienst- und Exerzierreglements zusammengehalten werden. - Ein gewisser schwerer Ernst und strenge Dienstordnung können die kriegerische Tugend einer Truppe länger erhalten, aber sie erzeugen sie nicht; sie behalten darum immer ihren Wert, aber man soll sie nicht überschätzen. Ordnung, Fertigkeit, guter Wille, auch ein gewisser Stolz und eine vorzügliche Stimmung sind Eigenschaften eines im Frieden erzogenen Heeres, die man schätzen muß, die aber keine Selbständigkeit haben. Das Ganze hält das Ganze, und wie beim zu schnell erkalteten Glase zerbröckelt ein einziger Riß die ganze Masse. Besonders verwandelt sich die beste Stimmung von der Welt beim ersten Unfall nur zu leicht in Kleinmut und, man möchte sagen, in eine Art von Großsprecherei der Angst: das französische sauve qui peut. - Ein solches Heer vermag nur durch seinen Feldherrn etwas, nichts durch sich selbst. Es muß mit doppelter Vorsicht geführt werden, bis nach und nach in Sieg und Anstrengung die Kraft in die schwere Rüstung hineinwächst. Man hüte sich also, Geist des Heeres mit Stimmung desselben zu verwechseln.
Sechstes Kapitel: Die Kühnheit
Welche Stelle und Rolle die Kühnheit einnimmt in dem dynamischen System der Kräfte, wo sie der Vorsicht und Behutsamkeit entgegensteht, haben wir in dem Kapitel von der Sicherheit des Erfolges gesagt, um damit zu zeigen, daß die Theorie kein Recht hat, sie unter dem Vorwande ihrer Gesetzgebung einzuschränken.
Aber diese edle Schwungkraft, womit die menschliche Seele sich über die drohendsten Gefahren erhebt, ist im Kriege auch als ein eigenes wirksames Prinzip zu betrachten. In der Tat, in welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit sollte die Kühnheit ihr Bürgerrecht haben, wenn es nicht im Kriege wäre?
Sie ist vom Troßknecht und Tambour bis zum Feldherrn hinauf die edelste Tugend, der rechte Stahl, welcher der Waffe ihre Schärfe und ihren Glanz gibt.
Gestehen wir uns nur: sie hat im Kriege sogar eigene Vorrechte. Über den Erfolg des Kalküls mit Raum, Zeit und Größe hinaus müssen ihr noch gewisse Prozente zugestanden werden, die sie jedesmal, wo sie sich überlegen zeigt, aus der Schwäche der andern zieht. Sie ist also eine wahrhaft schöpferische Kraft. Dies ist selbst philosophisch nicht schwer nachzuweisen. Sooft die Kühnheit auf die Zaghaftigkeit trifft, hat sie notwendig die Wahrscheinlichkeit des Erfolges für sich, weil Zaghaftigkeit schon ein verlorenes Gleichgewicht ist. Nur wo sie auf besonnene Vorsicht trifft, die, man möchte sagen: ebenso kühn, in jedem Fall ebenso stark und kräftig ist als sie selbst, muß sie im Nachteil sein; das sind aber schon die seltenen Fälle. In der ganzen Schar der Vorsichtigen befindet sich eine ansehnliche Majorität, die es aus Furchtsamkeit ist.
In dem großen Haufen ist die Kühnheit eine Kraft, deren vorzügliche Ausbildung nie zum Nachteil anderer Kräfte gereichen kann, weil der große Haufen durch die Rahmen und Gefüge der Schlachtordnung und des Dienstes an einen höheren Willen gebunden und also von fremder Einsicht geleitet wird. Hier bleibt die Kühnheit nur bis zum Losschnellen immer gespannte Federkraft.
Je höher wir unter den Führern hinaufsteigen, je notwendiger wird es, daß der Kühnheit ein überlegender Geist zur Seite trete, daß sie nicht zwecklos, nicht ein blinder Stoß der Leidenschaft sei; denn immer weniger betrifft es die eigene Aufopferung, immer mehr knüpft sich die Erhaltung anderer und die Wohlfahrt eines großen Ganzen daran. Was also bei dem großen Haufen die zur zweiten Natur gewordene Dienstordnung regelt, das muß in dem Führer die Überlegung regeln, und hier kann die Kühnheit einer einzelnen Handlung schon leicht zum Fehler werden. Aber dennoch bleibt es ein schöner Fehler, der nicht angesehen werden darf wie jeder andere. Wohl dem Heere, wo sich [166] eine unzeitige Kühnheit häufig zeigt; es ist ein üppiger Auswuchs, aber der Zeuge eines kräftigen Bodens. Selbst die Tollkühnheit, d. h. die Kühnheit ohne allen Zweck, ist nicht mit Geringschätzung anzusehen; im Grunde ist es dieselbe Kraft des
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