Vom Mondlicht berührt
haben Geneviève zum Zug gebracht«, antwortete Vincent und trank seine Cola aus. »Sie ist zu Charlotte und Charles aufgebrochen, weil sie es in ihrem Haus ohne Philippe nicht ausgehalten hat.«
Ich nickte, weil ich das Gefühl kannte. Ich hatte es kaum erwarten können, endlich aus unserem Haus in Brooklyn wegzuziehen, nachdem Mama und Papa gestorben waren. Alles dort erinnerte mich an sie – es war, wie in einem Mausoleum zu leben.
»Jetzt heißt es zurück an die Arbeit. Wir müssen Arthur und Violette über alles in Kenntnis setzen, was in Paris vor sich geht ... Beziehungsweise waren wir bereits dabei, bis du sie verjagt hast.« Jules zwinkerte Georgia zu, die schüchtern lächelte und dann ihre Hand hob, um einen Kellner heranzuwinken.
Als wir das Café eine halbe Stunde später verließen, legte mir Vincent einen Arm um die Schulter. »Komm doch noch mit zu uns«, drängte er. »Wir haben eine Hausbesprechung, weil gerade keiner von uns ruht. Es wäre gut, wenn du auch dabei wärst.«
»Dann sehen wir uns zu Hause«, sagte Georgia. Da sie in La Maison nicht willkommen war, kam sie ihm wohl zuvor, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Nachdem sie sich überschwänglich von allen Jungs verabschiedet hatte, zog sie los Richtung Papy und Mamie.
Keine zehn Minuten später waren wir in dem riesigen Saal, in dem Jean-Baptiste ein paar Monate zuvor, nach dem Kampf mit den Numa und Luciens Tod, Belohnungen und Strafen verteilt hatte: meine offizielle Erlaubnis, dieses Haus zu betreten, und die Verbannung ins Exil für Charles und Charlotte.
Ihre beiden Vertreter saßen auf einer Ledercouch vor dem Kaminfeuer, die Köpfe zusammengesteckt und in eine hitzige Diskussion vertieft. Es sah fast so aus, als hätten sie Streit. Ich wappnete mich und ging zu ihnen.
»Violette?«, sagte ich.
Sie sah zu mir auf und wirkte so zerbrechlich wie eine Porzellantasse. »Ja?«, antwortete sie und nickte Arthur kurz zu, als wäre das eine Aufforderung wegzutreten, bevor sie ihren Blick wieder auf mich richtete. Arthur stand auf und ging zu Jean-Baptiste und Gaspard, die in einer Ecke über eine Karte gebeugt waren.
»Ich wollte Ihnen sagen, dass mir das Verhalten meiner Schwester leidtut. Sie kann manchmal sehr beleidigend sein und ich möchte mich nicht für sie entschuldigen, sondern einfach nur klarstellen, dass ich nicht ihrer Meinung bin.«
Violette dachte einen Augenblick lang nach und nickte dann feierlich. »Selbstverständlich beurteile ich Euch nicht nach den Worten Eurer Schwester.« Sie griff nach meiner Hand. »Wie sagt man doch gleich auf Englisch? Sticks and stones may break my bones, but words will never hurt me. Ich hege keinen Groll«, fügte sie in ihrer gestelzten Ausdrucksweise hinzu.
Insgeheim atmete ich erleichtert auf. »Darf ich mich setzen?«, fragte ich und deutete auf den freien Sessel neben ihr. Sie lächelte und sagte: »Aber natürlich.«
»Und ...« Ich suchte nach etwas, worüber wir uns unterhalten konnten. »Was haben Sie und Arthur diese Woche gemacht?«
»Wir waren mit den anderen auf Patrouille, überwiegend mit Jean-Baptiste und Gaspard. Sie haben uns mit den verschiedenen Vierteln von Paris vertraut gemacht. Arthur und ich waren zwar schon mal hier, doch Paris hat sich im vergangenen Jahrhundert sehr verändert.«
Merkwürdiges Gespräch, dachte ich zum millionsten Mal. Obwohl ich mich langsam an die Eigenheiten des Revenantdaseins gewöhnte.
»Ist es komisch, so weit weg von zu Hause zu sein?«, fragte ich.
»Ja. Wir wohnen immerhin seit ein paar Jahrhunderten in Langeais, da ist ein solcher Ortswechsel natürlich ein drastischer Einschnitt in die eigenen Gewohnheiten. Aber es gab einen triftigen Grund, der uns dazu veranlasst hat, unser Heim zu verlassen. Schließlich sind wir hierhergekommen, um Jean-Baptiste dabei zu unterstützen, die Numa zu bezwingen.«
Sie lehnte sich zu mir herüber und klang sehr ernst, als würde sie mir eine wichtige und vertrauliche Frage stellen. »Und wie geht es Ihnen, Kate? Wie ist es, Euch nicht mehr in Eurer gewohnten Welt zu bewegen, sondern stattdessen von Unsterblichen umgeben zu sein? Wünscht Ihr Euch hin und wieder zurück in Euer gewohntes, sorgloses Leben als sterbliches Mädchen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ein sorgloses Leben hatte ich sowieso nicht mehr. Zumindest hat es sich nicht so angefühlt, seit meine Eltern vor ungefähr einem Jahr gestorben sind. Als ich Vincent gefunden habe« – oder hatte er mich gefunden?
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