Vom Mondlicht berührt
Tisch und sah mir vorsichtig ihren Inhalt an. In manchen Kartons waren nur lose, handgeschriebene Seiten, auf denen ich nach Worten suchte, die »Revenant« oder »Numa« ähnelten. Nichts.
Irgendwann fand ich ein uraltes Bestiarium – im Prinzip nichts anderes als ein Monsterhandbuch aus alten Tagen. An den Rändern befanden sich kleine Illustrationen der fabelhaften Wesen, die auf der Seite beschrieben wurden. Zumindest nahm ich das an; ich verstand nämlich kein einziges Wort, weil der Text auf Latein war.
Beim Blättern entdeckte ich ein Einhorn, einen Greif und eine Meerjungfrau, bis ich auf eine Zeichnung von zwei Männchen stieß. Eines hatte ein böses Gesicht und dem anderen waren Striche um den Kopf gemalt worden, sodass es aussah, als würde es strahlen. Über dem Abschnitt stand: »Revenant: Bardia/Numa.«
Ich schüttelte vor Verwunderung den Kopf. War ja klar, dass Papy ein Buch mit einer Miniatur von Untoten besaß, die wahnsinnig übersteigerten Wert darauf legten, unentdeckt zu bleiben. So großen Wert, dass sie in der modernen Welt wirklich weitestgehend unbekannt waren.
Vor lauter Aufregung fuhr mir ein Schauer über den Rücken, während ich versuchte, den kurzen Abschnitt unter der Überschrift zu entschlüsseln. Doch abgesehen von den ersten drei Wörtern verstand ich absolut gar nichts. Jetzt ärgerte ich mich, dass ich in der Schule nur ein Jahr lang Latein gewählt hatte. Ich schnappte mir ein Blatt aus Papys Drucker und schrieb den Text sorgfältig ab. Als ich damit fertig war, legte ich das Manuskript wieder in seine Schachtel und die Schachtel zurück ins Regal. Dann suchte ich mir noch ein lateinisches Wörterbuch aus dem Fach, wo die Nachschlagewerke standen, und machte mich auf den Weg in mein Zimmer.
Die komischen lateinischen Verbformen und die Tatsache, dass jedes Wort scheinbar an beliebiger Stelle im Satz auftauchen konnte, waren schuld daran, dass ich eine ganze Weile mit dem kurzen Abschnitt beschäftigt war. Irgendwann hatte ich zumindest so viel entziffert: Der Text definierte Revenants als Unsterbliche, die sich aufteilten in die, die Menschenleben wahren – bardia –, und die, die Menschenleben nehmen – numa. Beide Arten waren angewiesen auf den »Todesschlaf« und beherrschten die »Seelenwanderung«. Sie nutzten die Energie der Personen, die sie retteten oder töteten. Und es war praktisch unmöglich, sie auszulöschen.
Das ist mir alles nicht neu , dachte ich enttäuscht. Abgesehen von dem Begriff »Bardia«. Ich fragte mich, warum die Revenants sich nicht mehr so nannten, die Numa benutzten ihren antiken Namen schließlich immer noch.
Auf meinem Zettel wartete noch eine weitere kurze Passage darauf, übersetzt zu werden. Sie war in winziger Schrift an den unteren Rand der Seite gekritzelt worden. Da sie nur aus zwei Sätzen bestand, fiel es mir leichter, sie zu entschlüsseln. Die Bedeutung ließ sich fast Wort für Wort übertragen. Je weiter ich in der Übersetzung kam, desto kälter wurde mir. Als ich fertig war, waren meine Finger ganz taub.
»Wehe dem Menschen, der einem Revenant begegnet. Denn er hat mit dem Tode getanzt, sei es, dass er aus seiner kalten Umklammerung gelöst oder in sie getrieben wurde.«
Ich zitterte und warf dann einen Blick auf die Uhr, weil ich hörte, dass meine Großeltern nach Hause kamen. Mitternacht. Weitere Nachforschungen musste ich wohl oder übel auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Doch da ich gleich am ersten Tag meiner Suche Erfolg gehabt hatte, war mein Ehrgeiz geweckt: Ich war fest entschlossen, noch mehr herauszufinden.
U nd schon waren die Ferien vorbei und ich musste wieder zur Schule. Mein erstes Schuljahr in Paris war bisher ganz gut verlaufen und weil ich die Pausen mit Georgia verbrachte, die nun kurz vor ihrem Abschluss stand, war mir auch nie langweilig geworden. Aber durch die ganze Aufregung, die Vincent und die Revenants in mein Leben gebracht hatten, war dieser Aspekt meines Alltags eher nebensächlich geworden. Die Schule war nur noch etwas, das ich abhaken musste. Über die Zeit danach machte ich mir gar keine Gedanken.
Georgia hingegen wusste ziemlich genau, wie es bei ihr weitergehen sollte. Sie wollte im Herbst anfangen, an der Sorbonne Kommunikationswissenschaften zu studieren. Außerdem hatte sie einen neuen Freund. Sebastien war im Gegensatz zu ihrem Exfreund nicht nur kein Mörder, sondern, soweit ich wusste, nicht mal vorbestraft und sehr nett noch dazu. Natürlich spielte er in einer
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