Vom Mondlicht berührt
mich doch jedes Mal wieder ein wohliger Schauer, wenn ich etwas in der Hand hielt, das über tausend Jahre alt war.
Noch bevor ich einen Blick in die dritte Kiste werfen konnte, wusste ich bereits, was sich darin befand. Mein Herz schlug sofort schneller, als ich den Karton aufklappte und mir der Geruch von muffigem Papier entgegenströmte. Schon sah ich eine Sammlung alter Bücher – wobei Buch vielleicht übertrieben war. Es handelte sich eher um handgebundene Schriften. Die empfindlichsten steckten in Plastiktüten, ein paar dickere Exemplare lagen unverpackt dazwischen.
Bücher von einem Sammler, der auf römische Antiquitäten stand. Das wirkte durchaus vielversprechend. Ich nahm wahllos eins heraus. Es war ein altes, gedrucktes deutsches Buch, versehen mit Stichen von griechischen und römischen Plastiken. Vorsichtig legte ich es auf den Boden neben den Karton und griff nach einem kleinen Buch, dessen roter Ledereinband mit Kringeln und Figürchen verziert war.
Es war so groß wie die illustrierten Gebetsbücher, die ich aus dem Louvre kannte, nur viel schmaler. Ich schlug es auf. Dies war kein Druck, sondern eine gotische Handschrift, wie sie im Mittelalter von Mönchen hergestellt wurden. Davon hatte ich mal gelesen. Manche Mönche hatten ihr ganzes Leben damit verbracht, Bücher abzuschreiben und zu illustrieren. Bevor der Buchdruck erfunden wurde, war die Abschrift die einzige Möglichkeit, einen Text zu vervielfältigen.
Dieses Buch war nicht vergleichbar mit den Meisterwerken, die ich in den Schaukästen verschiedener Muséen hinter dickem Sicherheitsglas gesehen hatte. Es war sehr schlicht gehalten und doch schön. Goldene Ranken und Schnörkel schmückten die Ränder. Auf der ersten Seite wimmelte es nur so von Blättern und Beeren. Mittig am unteren Rand befanden sich zwei Totenköpfe. Unsterbliche Liebe stand dort auf Französisch. Die nächste Seite bot die bunte, einfache Zeichnung eines Mannes und einer Frau in mittelalterlicher Kleidung, die sich an den Händen hielten. Obwohl die Zeichnung sehr einfach war, konnte ich erkennen, dass die Frau bereits ziemlich betagt war – sie hatte weiße Haare –, wohingegen der Mann sehr jung aussah, wie ein Jugendlicher sogar.
Die Zeichnung war mehrere Jahrhunderte, vielleicht sogar ein Jahrtausend alt. Ich sah sie mir ganz genau an, betrachtete jedes winzige Detail. Die Frau war alt, ihre Haltung ein wenig gekrümmt. Der Mann strotzte nur so vor Jugendlichkeit und Frische. Im ersten Moment hätte man sie für Großmutter und Enkel halten können, hätten sie dort nicht Hand in Hand gestanden, ihre Köpfe leicht einander zugeneigt in einer Geste von Zusammengehörigkeit und Zärtlichkeit.
Ich blätterte zurück zur ersten Seite. L’amur immortel las ich noch einmal. Dann erst fiel mir der Untertitel auf, der in dünnen, spinnengliedrigen Buchstaben darunterstand. Er war kaum zu erkennen, die Tinte war im Laufe der Jahrhunderte fast verblichen, noch dazu konnte ich die alte französische Schrift nur schwer entziffern. »Die tragische Geschichte ... Liebe ... einem Bar ... und ... Sterblichen«. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Konnte das »Bar« für Bardia stehen? Vom Platz her würde es passen. Mit einer Sterblichen ?
Mein Gott, ich hatte etwas gefunden. In meinem Kopf drehte sich alles – und kam zu einem abrupten Halt, als die Klingel ertönte. Ich stand schwankend auf und flitzte in den vorderen Teil des Geschäfts. Die Gestalt einer mir nur allzu vertrauten Person zeichnete sich vor der Glastür ab, groß genug, den gesamten Rahmen auszufüllen. Er schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab und blickte in das Geschäft. Ich drückte den Türöffner, der sich an der Ladentheke befand.
»Vincent!«, rief ich. Schuldgefühle durchzuckten mich. »Woher weißt du, dass ich hier bin?«
Er kam mit großen Schritten durch den Laden, die Hände in den Taschen und ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen. Er küsste mich sanft und sah sich neugierig um. »Ich hab so meine Quellen«, sagte er. Dann hob er eine Augenbraue und fügte mit Vincent-Price-Stimme hinzu: »Ich weiß immer, wo du bist.«
»Jetzt mal im Ernst«, quengelte ich kichernd.
»Also, es gibt da etwas, das landläufig SMS genannt wird«, sagte er trocken. »Eine solche habe ich bekommen, als du große Pause hattest, von deinem Mobiltelefon. Darin stand, dass du heute Nachmittag kurz das Geschäft deines Großvaters hüten würdest.« Leise deutete sich ein Lächeln in seinen
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