Vom Mondlicht berührt
alten Legenden sind gemeinhin genau das: alte Legenden. Meist steckt ein Körnchen Wahrheit darin, aber ganz sicher nichts, was hilfreich sein könnte.«
»Da hast du höchstwahrscheinlich recht«, stimmte ich zu in dem Versuch, das Thema zu wechseln. Sobald ich das Buch zurückgegeben hatte, würde ich es ihr zeigen und sie um ihre Einschätzung bitten. Bis dahin sollte sie es am besten einfach vergessen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sie in Jean-Baptistes Bibliothek nachschaute und dort nur eine leere Schachtel vorfand.
E rst abends, als ich im Bett lag, spürte ich sie. Die Einsamkeit. Den Tag, an dem Vincent nicht existierte, mochte ich am wenigsten. Da lag er, nur ein paar Straßen entfernt, kalt auf seinem Bett.
Es war ja nicht so, dass ich ihn jede Sekunde sehen musste. Aber wenn ich wusste, dass ich nicht mit ihm sprechen konnte, dass es keine einzige Möglichkeit gab, zu ihm Kontakt aufzunehmen, machte mich das total fertig.
Wir waren noch nicht mal ein Jahr zusammen und trotzdem hatte ich das ehrliche Gefühl, dass Vincent mein Seelenverwandter war. Er vervollständigte mich. Natürlich war ich allein schon eine vollständige Person, doch er schien mich perfekt zu ergänzen.
Ich legte mich zurück aufs Kopfkissen und schloss die Augen. Vor meinen Lidern tauchte sofort ein Gemälde auf: eins meiner Lieblingswerke von Cezanne. Auf einer kleinen, einfachen Leinwand waren zwei perfekte Pfirsiche abgebildet. Die Früchte hatte er mit lockeren Pinselstrichen in Orange, Gelb und Rot gemalt. Ihre leuchtenden Farben fügten sich so schön zusammen, dass man am liebsten in das Gemälde greifen, sich einen Pfirsich schnappen und dann hineinbeißen würde, um ihre verlockende Saftigkeit selbst zu kosten.
Aber auf dem Bild war noch etwas anderes, das man erst wahrnahm, wenn man den Blick von den warmen Farben zu lösen vermochte. Die Pfirsiche lagen auf einem rahmweißen Teller, dahinter bauschte sich blauer Stoff. Hätte Cezanne die Leinwand um die leuchtenden Pfirsiche herum weiß gelassen, wären die Pfirsiche nicht glaubhaft gewesen. Erst der fein abgestimmte Hintergrund erweckte sie zum Leben.
Genau das bewirkte Vincent bei mir. Er gab mir Kontext. Zwar empfand ich mich allein schon als Ganzes, aber mit ihm fühlte ich mich noch vollständiger.
Doch im Moment musste ich mit mir vorliebnehmen. Ich konzentrierte mich auf meine Pläne für den morgigen Tag und schlief wenig später ein.
Guten Morgen, ma belle, sagte eine Stimme, als ich meine Augen öffnete. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker. Acht Uhr früh.
Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen wieder. »Mmm«, machte ich erfreut. »Guten Morgen, Vincent. Und, wie lange geisterst du schon durch mein Zimmer?« Das sprach ich laut aus, denn sonst konnte er mich nicht hören. Gedankenlesen gehörte nämlich nicht zu den Superkräften eines Revenants.
Seit ich aufgewacht bin. Ich vermute, das war kurz nach Mitternacht. Die Worte wehten durch meinen Kopf wie ein Lufthauch, hielten sich nicht bei meinen Ohren auf, sondern erschienen einfach in meinen Gedanken. Ganz am Anfang hatte ich nur einzelne Wörter herausgehört. Mittlerweile, mit ein paar Monaten Übung, verstand ich fast alles.
»Hab ich geschnarcht?«, murmelte ich.
Du schnarchst nie. Du bist perfekt.
»Ha!«, sagte ich. »Was bin ich froh, dass du nichts riechen kannst, wenn du volant bist. Dann muss ich wenigstens nicht erst aufspringen und Zähne putzen, bevor wir uns unterhalten.«
Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, stellte ich mir vor, wie er angesichts meiner Worte lächelte.
»Du fehlst mir«, sagte ich. »Ich wäre gerade so gern bei dir zu Hause, bei dir im Bett, um dir Gesellschaft zu leisten.«
Du meinst, meinem kalten, toten Körper? Selbst in meinen Gedanken klang Vincent amüsiert. Obwohl du stattdessen eine Unterhaltung mit mir führen könntest? Das heißt also - die nächsten Worte kamen ein bisschen zeitversetzt –, du ziehst meinen Körper meinem Geist vor.
»Ich mag beide«, sagte ich stur. »Aber ehrlich gesagt, halte ich Körperkontakt für etwas sehr Wichtiges in einer Beziehung. Ich glaube nicht, dass ich mit einem Geist zusammen sein könnte.«
Keine Geister also, aha. Aber Revenants sind okay?
»Nur einer«, sagte ich. Meine Arme sehnten sich richtig danach, sich um ihn zu legen. Ich umklammerte stattdessen mein Kissen. Verlangen keimte leise in mir auf, als ich mir vorstellte, er würde neben mir liegen. »Ich will dich«, murmelte
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