Vom Mondlicht berührt
ich, unsicher, ob er meine durch das Kissen gedämpften Worte verstanden hatte.
Verlangen ... In meinem Kopf herrschte eine geschlagene Minute lang Pause. Dann hörte ich, wie er fortfuhr. Verlangen ist eine komische Sache. Wenn ich mit dir zusammen bin, rein körperlich, wehre ich mich die ganze Zeit über. Gegen mich selbst. Wir kennen uns noch nicht so lange und ich möchte, dass du dir sicher bist, was du willst, bevor wir ... weiter gehen.
»Ich weiß, was ich will«, sagte ich.
Vincent ignorierte meine Worte. Doch jetzt, wenn es nicht einmal möglich ist, dich zu berühren ... Dann will ich dich so sehr, dass es fast wehtut.
Überrascht setzte ich mich auf und schaute mich in meinem Zimmer um bei dem Versuch, ihn irgendwo zu orten. »Das hast du mir noch nie gesagt.«
Dir zu widerstehen, ist so ähnlich, wie dem Sterben zu widerstehen. Je länger ich ausharre, desto schwieriger wird es.
Eine Weile saß ich sprachlos in meinem Bett. Alle meine Sinne waren hellwach: Es kribbelte in den Fingerspitzen und der Duft von Mamies Blumen, der vom Nachttisch herüberwaberte, war überwältigend berauschend. »Du hast mal gesagt, das Sterben sei wie eine Droge für dich«, sagte ich endlich.
Trotzdem habe ich mich für dich entschieden. Ich bin davon überzeugt, wenn es bei uns erst mal so weit ist, wird das um Welten besser als jede dieser kurzzeitigen, übernatürlichen Belohnungen.
»Und wann ist es das erste Mal so weit?«, fragte ich zögerlich.
Wann immer du willst.
»Jetzt.«
Leicht gesagt, weil es jetzt nicht möglich ist. Ich konnte fast Vincents betrübtes Lächeln hören.
»Dann bald«, sagte ich.
Bist du dir sicher? Die Worte flatterten wie Vögel durch meinen Kopf.
»Ja, bin ich«, sagte ich. Mein ganzer Körper summte, doch mein Verstand war überraschend ruhig. Es war ja nicht so, als hätte ich noch nie darüber nachgedacht. Im Gegenteil. Sehr oft sogar. Sex hatte man – meiner Meinung nach – mit jemandem, mit dem man zusammenbleiben wollte. Und daran bestand für mich kein Zweifel. Ich wollte mit Vincent zusammenbleiben. Intimität war ein ganz natürlicher, nächster Schritt.
Ich blieb noch eine halbe Stunde im Bett und unterhielt mich mit Vincent. Mein Telefon lag neben mir auf dem Kissen, für den Fall, dass Mamie, ohne anzuklopfen, hereinkam. Das tat sie zwar nie, aber falls es doch einmal passieren sollte, hatte ich wenigstens eine Ausrede dafür parat, weshalb ich scheinbar Selbstgespräche führte.
Vincent musste den ganzen Tag mit Jules und Ambrose patrouillieren. Nachdem er sich verabschiedet hatte, stand ich auf, frühstückte und machte mich auf den Weg. Den gestrigen Tag hatte ich für meine Recherche genutzt und herausgefunden, dass der Heilige Ouen, Bischof von Rouen, 684 n. Chr. auf einem königlichen Gut Dagoberts I. verstorben war. Auf Lateinisch hieß der Ort bis dahin Clippiacum, wurde jedoch nach Ouens Tod in Saint-Ouen umbenannt und so zu einem beliebten Pilgerziel. Um diesen Pilgerkult entstand dann die Stadt.
Den königlichen Landsitz gab es nicht mehr, doch auf einer Internetseite fand ich die Information, dass er vermutlich dort gestanden hatte, wo im zwölften Jahrhundert eine Kirche erbaut worden war. Deshalb wollte ich mit meiner Suche in der Nähe der Kirche beginnen und von dort aus suchen, bis ich etwas Relevantes gefunden hatte.
Mit der Metro fuhr ich bis Mairie de Saint-Ouen, das sich genau am nördlichsten Stadtrand von Paris befand. Wenn die Stadt ein Ziffernblatt wäre, läge die Station auf zwölf Uhr. Mithilfe der Karte, die in der Metrostation hing, fand ich problemlos den Weg zur Kirche.
Während der fünfzehn Minuten, die ich dorthin brauchte, wurden die eher modernen Glas- oder Backsteinfassaden von verwohnten Hochhäusern abgelöst, an deren Front unzählige Satellitenschüsseln angebracht waren. Als ich endlich vor der Kirche stand, war ich sehr überrascht. Das kompakte steinerne Gebäude war von beiden Seiten von einem wenig vertrauenseinflößenden Siedlungsprojekt eingefasst. An einem Geländer in der Nähe entdeckte ich eine Gruppe nicht gerade freundlich wirkender Jungs, weshalb ich schleunigst zum Kirchenportal schritt – aber leider war die Tür verschlossen.
Ich trat zurück, um mich besser umsehen zu können. Die steinerne Fassade wirkte nicht sehr alt, doch die gemeißelte Verzierung oberhalb des Türsturzes stammte sicher aus dem Mittelalter und zeigte einen Engel, der einer Königin einen Kelch überreichte. Rechts neben der
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