Vom Mondlicht berührt
Kirche lag ein gepflasterter, von Rosensträuchern umgebener Hof, zu dem ein weißes Metalltor führte. An diesem Tor hing ein Blatt Papier, auf dem die kommenden Messetermine aufgelistet waren. »Église Saint-Ouen le Vieux« stand ganz oben auf der Seite. Demnach war ich also hier richtig.
Die Kirche thronte auf einem Hügel, von dem aus man ein gewerblich genutztes Gebiet an den Ufern der Seine überblicken konnte. Nicht schwer auszumalen, wieso man im siebten Jahrhundert ausgerechnet hier einen königlichen Landsitz gebaut hatte. Die günstige Lage barg große Transportvorteile durch die Nähe zum Wasser. Und wenn die Pilger diesen Ort zum Ziel hatten, werden die Reliquienanbieter sicher nicht weit gewesen sein , dachte ich.
Ich sah mich nach einem dieser Läden um, die sich in Europa für gewöhnlich in unmittelbarer Nähe von Heiligtümern befanden und vollgestopft waren mit Bildern vom Papst und Postkarten von Heiligen. Hier gab es jedoch nichts als Apartmenthäuser und ein Seniorenheim. Also ließ ich die Kirche hinter mir und lief im Zickzackmuster durch die angrenzenden Straßen, um auch ja nichts zu übersehen. Aber auch hier gab es weder Läden, die Reliquien anboten, noch Schilder mit Stricken oder Seilen.
Selbst die kleinen Eckkneipen trugen keinen Namen, der an das erinnerte, wonach ich suchte. Aber was hatte ich denn erwartet? Ein Lokal, das »Zeichen des Strickes« hieß? Oder besser noch: »Der Heiler und der Strick«? Zwar hatte ich nicht damit gerechnet, »das Zeichen des Strickes« irgendwo Buchstabe für Buchstabe geschrieben zu sehen, aber zumindest irgendeinen Hinweis hätte ich mir in einem Radius von sechs Blocks doch erhofft.
Frustriert stapfte ich zurück zur Kirche und setzte mich auf die Stufen, die zu dem Eingangsportal hinaufführten. Das Pfeifkonzert der Jungs ignorierte ich geflissentlich und versuchte, mir einen Plan B einfallen zu lassen. Ich beobachtete, wie drei Männer zu einem nahe gelegenen Gebäude gingen, an eine geschlossene Tür klopften und dann sowohl mir als auch den Jungs misstrauische Blicke zuwarfen, während sie darauf warteten, dass ihnen geöffnet wurde. Ich sollte lieber so schnell wie möglich von hier verschwinden , dachte ich, als sich ein Gefühl der Unsicherheit in mir breitmachte. Als ich aufstand, trat gerade ein Mann mit einem weißen Kollar aus dem Tor zum Hof. Schnell lief ich ihm nach.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. Der Mann lächelte abwartend. »Gibt es hier in der Nähe einen Laden, der Reliquien oder christliche Gegenstände verkauft?«
Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Während der Messe verkaufen wir Kerzen und Postkarten, ansonsten fällt mir kein Geschäft ein, das die Dinge verkauft, nach denen Sie fragen.«
Ich bedankte mich und machte mich entmutigt auf den Rückweg.
»Aber Sie könnten es mal auf dem Marché aux Puces versuchen«, rief er mir hinterher.
Der Marché aux Puces war der berühmteste Flohmarkt von Paris und lag zu Fuß vielleicht eine halbe Stunde von hier entfernt. Den hatte es natürlich vor tausend Jahren noch nicht gegeben, doch möglicherweise ja etwas Vergleichbares? Und davon war mitunter sogar etwas erhalten geblieben. Auf diesem Markt konnte man jedenfalls fast alles finden, was das Herz begehrte. Warum also nicht einen Versuch wagen?
Es war bereits nach zwölf. Da ich hungrig war, kaufte ich mir in einem Imbiss ein Panini und aß es im Gehen. Mir war vollkommen bewusst, dass dies absolut nicht der Pariser Etikette entsprach. Fußgänger, die an mir vorbeieilten, wünschten mir bon appetit , was natürlich zynisch gemeint war und eigentlich »Sie sollten sich wirklich an einen Tisch setzen, um Ihr Mittagessen zu genießen« heißen sollte.
Bereits am Rand des riesigen Gebietes, auf dem sich der Markt befand, standen hin und wieder einzelne Verkäufer, die auf ihren Klapptischen Ramsch anboten. Eigentlich minderwertiges Zeug, schlechter als der übliche Flohmarktkram; ich entdeckte zum Beispiel gebrauchte Kindertöpfchen aus Plastik oder gebrauchte Autoteile. Je weiter ich zur Marktmitte vordrang, desto besser wurden die feilgebotenen Waren. Bald erreichte ich die festen Marktstände und winzigen Lädchen, in denen man von afrikanischen Masken über echte Lavalampen aus den 70ern bis hin zu Kristallkronleuchtern alles finden konnte. Der Geruch von Räucherstäbchen und Möbelwachs mischte sich mit dem von gedünsteten Zwiebeln, als ich eine der vereinzelten Essbuden passierte, die sich
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