Vom Mondlicht berührt
Landsleute gefallen bist?«
»Es gibt keine allgemeinen Gründe, weshalb jemand in einen Revenant verwandelt wird«, antwortete Jules. »Im Krieg zu fallen, reicht nicht. Wenn das ausreichend wäre, gäbe es vermutlich viel mehr von uns.«
»Wen hast du gerettet?«
»Einen Freund. Wobei ... Er war gar nicht wirklich ein Freund, sondern gehörte einfach zu einem der Künstlerkreise, mit denen ich vor dem Krieg meine Zeit in Paris verbrachte. Er hieß Fernand Léger.«
»Der Fernand Léger?«, staunte ich.
»Oh, du hast also schon mal von ihm gehört?« Da lag eine Spur Sarkasmus in seiner Stimme.
»Ich bitte dich, Jules. Du weißt doch, wie sehr ich Kunst liebe.«
»Na, er ist nicht ganz so bekannt wie die anderen Mitglieder dieser Gruppe: Picasso, Braque, Gris.«
»Aber bekannt genug, dass ich weiß, wer er ist. Und ich habe dich doch letzten Sommer vor seinen Bildern im Musée National d'Art Moderne getroffen, oder? Erinnerst du dich noch daran? Du hast so getan, als wärst du jemand anderes, weil ich dich nach dem Unfall in der U-Bahn wiedererkannt hatte.«
Jules grinste bei dem Gedanken daran. Es war seine postmortale Erscheinung, die dafür gesorgt hatte, dass ich mich sofort auf den Weg zu Jean-Baptistes Haus gemacht hatte, um mich bei Vincent zu entschuldigen. Dort hatte ich ihn dann tot auf seinem Bett gefunden, weshalb ich schlussendlich herausfand, was er war. Ein historischer Tag im Leben der Kate Mercier, ganz klar.
»Ja, dort hängt ein Porträt von mir, auf dem ich nicht wirklich zu erkennen bin. Es ist nicht sehr schmeichelhaft. Ich sehe aus wie ein Roboter. Vielmehr wie ein Roboterskelett. Aber auch das ist irgendwie verständlich, schließlich war ich zu dem Zeitpunkt, als er das Bild malte, schon tot.«
»Sprichst du etwa von Das Kartenspiel?«, fragte ich ehrfürchtig.
»Ja. Wir hatten zwischen den einzelnen Gefechten viel Zeit und haben fast immer Karten gespielt. Irgendwann nach dem Krieg, als ich gerade volant war, hörte ich, wie er jemandem erklärte, dass der Soldat ganz rechts auf dem Bild denjenigen darstellen sollte, der ihm das Leben gerettet hat. Aber ich werde im Leben keine Ähnlichkeiten feststellen können.« Jules musste über seinen eigenen Witz lächeln.
»Was ist passiert? Wie genau hast du ihn gerettet?«
»Ich hab ihm während eines Senfgasangriffs der Deutschen meine Atemschutzmaske gegeben. Als ich mich gerade auf den Boden geworfen hatte, drang der Feind vor und erschoss alle, die auf dem Boden lagen.«
Was für eine fürchterliche Art zu sterben, dachte ich. Trotz meines Entsetzens gab ich mir große Mühe, so sachlich wie möglich zu klingen, damit er nicht aufhörte, zu erzählen. »Wieso hast du das getan?« »Ich war jung, er war älter und schon ein bekannter Künstler. Ich habe ihn respektiert, fast verehrt.«
»Aber wer ist schon bereit, für sein Idol zu sterben?«
Jules zuckte mit den Schultern. »Ich hab mich mit anderen Revenants darüber unterhalten. Wir waren bereits zu Lebzeiten fast suizidal menschenfreundlich veranlagt. Das ist das Einzige, was uns allen wirklich gemein ist.«
Nach diesem Satz verstummte er und ließ mich mit dem Gedanken allein, ob ich es wohl in mir hatte, mein Leben für jemanden zu opfern. Doch ich kam zu dem Schluss, dass das einfach etwas war, was man nicht wissen konnte, bis sich einem die Gelegenheit bot und man dem Tod ins Angesicht blickte.
Zwanzig Minuten später bogen wir auf einen kleinen Parkplatz, der ein paar Blocks von Le Corbeau entfernt lag.
»Sagst du mir jetzt, was du vorhast?«, fragte Jules zum vierzigsten Mal.
»Nö«, sagte ich beim Verlassen des Wagens. Ich entdeckte ein kleines Café ganz in der Nähe, deutete darauf und sagte: »Aber du kannst ja da auf mich warten.«
»Die Antwort auf diesen Befehl lautet: ›Non, madame la capitaine.‹ Nie im Leben lasse ich dich allein irgendeine Besorgung machen, von der du nicht mal willst, dass Vincent darüber Bescheid weiß. Du hast mich unter Berufung auf meinen Beschützerinstinkt hierhergelockt, jetzt musst du auch damit klarkommen, beschützt zu werden.«
Wir starrten uns einen Augenblick lang herausfordernd an. Doch als mir klar wurde, dass er nicht nachgeben würde, nickte ich, und so gingen wir gemeinsam Richtung Reliquiengeschäft. Irgendwie war es sogar schön, dass er mitkam, denn allmählich wurde ich nervös – weil ich nicht wusste, wie ich das dort genau anstellen sollte.
Schon aus der Entfernung konnte ich erkennen, dass diesmal
Weitere Kostenlose Bücher