Vom Regen in die Traufe
Joiken nicht schon vor Urzeiten erfunden worden, h ä tte es auf jeden Fall jetzt seine Geburtsstunde erlebt. Ragnar johlte aus vollem Hals, aber vergebens. Weder die Hilferufe noch das aufgeregte Joiken erreichten irgendeines Menschen Ohr. Das M ä dchen an der Kasse im Eingangstor wunderte sich zwar ein wenig, was da aus der alten Blockh ü tte f ü r T ö ne kamen, verga ß dann aber das Ganze, da sie die neueste Nummer ihres Lieblingsmagazins vor sich liegen hatte.
Ernstere Auswirkungen der unverdienten Strafsitzung zei g ten sich gegen Abend, als Ragnar das Bed ü rfnis versp ü rte, die Toilette aufzusuchen. Wie aber gelangt ein in den Stock gele g ter Mann dorthin? Gar nicht. Ihm kam bereits der schreckliche Gedanke, dass er sich in seiner Not in die Hosen machen m ü s s te. Es war fast sechzig Jahre her, seit ihm das zuletzt passiert war. Damals hatte ihm die Mutter ohne Murren eine neue Hose gegeben und ihm sogar noch einen Kuss auf die Wange g e dr ü ckt, gleichsam als Lohn f ü r die gute Leistung. Jetzt aber war von der Mutter weit und breit keine Spur, denn sie war bereits vor zwanzig Jahren gestorben, wie ü brigens auch der Vater. Und der verflixte Hermanni hatte nicht ins Museum mitgehen m ö gen, hatte angeblich genug von den Sá mis.
Hermanni Heiskari erwachte im Hotel aus seinem Mittag s schlaf und sah auf die Uhr. Wo in aller Welt steckte der Oberst? Er beschloss, in den Ort zu gehen und nach Ragnar Ausschau zu halten. Schlie ß lich hatte er ein Anliegen. Die Pl ä ne f ü r den Aufstand warteten auf das Urteil eines Fac h mannes.
Hermanni lief ü berall herum, sah in Gesch ä ften und Resta u rants nach, fragte die Leute, aber kein Ragnar Lundmark weit und breit. Schlie ß lich stiefelte er ins samische Museum und erkundigte sich, ob ein Mann von Ragnars Aussehen dort aufgetaucht war. Das M ä dchen am Eingang versuchte sich zu erinnern und meinte schlie ß lich, dass der besagte Herr m ö gl i cherweise das Gel ä nde betreten hatte, vor ein paar Stunden war das gewesen. Hermanni beschloss, in s ä mtlichen Geb ä u den nachzusehen, und so fand er schlie ß lich seinen Reiseg e f ä hrten im Fu ß block der Gerichtsbaracke. Ragnar war ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, sein dringendes Bed ü rfnis zu unterdr ü cken. Als er endlich aus den Fesseln befreit war, rannte er wie ein wild gewordener Elch nach drau ß en und erleichterte sich hinter dem Geb ä ude.
Nach einer Weile h ö rte man von dort eine leise Stimme:
» K ö nnte ich Papier haben, Herr Heiskari? «
Sie kehrten ins Hotel zur ü ck, wo Ragnar Lundmark sich da r anmachte, Hermannis Kriegspl ä ne zu studieren, die aus einigen Hundert maschinengeschriebenen Seiten und f ü nfzig kopierten Karten bestanden. Es gab eine allgemeine Darste l lung und eine strategische Ü bersicht sowie eine operative und zus ä tzlich noch eine detaillierte Beschreibung der Taktik f ü r den Volksaufstand.
Ragnar Lundmark sagte sich, dass er, wenn er tats ä chlich Oberst w ä re, m ö glicherweise einige Details korrigieren w ü rde, aber f ü r einen gew ö hnlichen Leutnant gingen die Pl ä ne vol l kommen in Ordnung. Zum Beispiel war die Besetzung Rov a niemis in einer Art und Weise geplant und beschrieben, die durchaus Erfolg versprechend schien. Hermanni Heiskari war es gelungen, sich die milit ä rische Eroberung der Stadt sehr detailliert vorzustellen, obwohl er die Welt vom Ufer des k ü ns t lichen Sees von Porttipahta aus betrachtet hatte.
Noch nie in seinem Leben hatte Ragnar Lundmark ein so unheimliches Kriegsbuch gelesen. In Hermannis Pl ä nen war sorgf ä ltig jede auch nur einigerma ß en wichtige finnische Or t schaft, in der man das Aufflammen von K ä mpfen erwarten durfte, aufgelistet. Nicht einmal Maarianhamina war ausg e spart. Die Depots, die Flugpl ä tze, die Radiosender, die Br ü cken, die Fernverkehrsstra ß en … alles war bedacht. Je weiter Ragnar in der Lekt ü re vorankam, desto st ä rker beeindruckte ihn der Text. Er erkannte, dass er hier ein grausames Epos in den H ä n den hielt, die Partitur des kommenden Krieges, einen spanne n den, mitrei ß enden Lesestoff, der unter Umst ä nden Finnlands Untergang bedeutete. Der Text ü bte irgendwie eine magische Wirkung aus, und noch bevor Ragnar bis zum Schluss vorg e drungen war, hatte er schon unbewusst f ü r den Aufstand Partei ergriffen. So wirkt nun einmal Propaganda auf die Menschen. Und Fakten wiederum waren die verl ä sslichste Propaganda.
Eine
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