Vom Schicksal bestimmt: Soul Seeker 1 - Roman (German Edition)
Bewegung zu setzen.
Zweiundvierzig
W ährend ich zu meiner letzten Stunde gehe, dem freien Lernen, der Stunde, die ich zusammen mit Dace habe, kann ich nicht leugnen, dass ich mich darauf freue, ihn wiederzusehen. Doch meine Freude schlägt bald in Enttäuschung um, als ich seinen Platz leer vorfinde. Aus irgendeinem Grund steht freies Lernen heute nicht auf seinem Stundenplan.
Ich setze mich an den Tisch und ziehe mein Buch heraus. Eigentlich will ich eine ausgiebige Lesesitzung halten, doch ich komme nicht besonders weit, weil ich schon wieder an Paloma denken muss.
Ich muss ihr helfen.
Für mich als ihre Enkelin – als Suchende – muss es doch etwas geben, was ich tun kann. Etwas mehr, als nur untätig in diesem Raum zu sitzen und von einem Videomonitor überwacht zu werden.
Ich hänge mir die Tasche über die Schulter und eile zur Tür. Meine Mitschüler sehen entsetzt zu, da das unerbittliche Auge der alles erfassenden Kamera meine Flucht verfolgt. Ich renne die zahlreichen Flure entlang, breche durch die Doppeltür hinaus und an dem Wachmann vorbei, während ich versuche, mir einen Plan einfallen zu lassen.
Auch wenn ich vielleicht nicht weiß, wie ich die Richters daran hindern soll, in die Unterwelt einzudringen, bleibt immer noch ein Tag, ehe sie überhaupt dazu im Stande sind.
Und da Rabe in der Unterwelt lebt und es seine Aufgabe ist, mich zu leiten, nehme ich an, dass ich ebenso gut dort anfangen kann.
Nur dass ich keine Ahnung habe, wie ich dort hinkomme.
Mein einziger Besuch dort war auf der Seelenreise, als ich Palomas Tee getrunken habe.
Da ich nur von einem einzigen anderen Weg weiß, wie ich es herausfinden könnte, kehre ich zu Palomas Haus zurück, schleiche mich ohne Jennikas Wissen durchs Tor und gehe schnurstracks zu Kachina in den Stall, wo ich ihr Zaumzeug anlege und auf ihren Rücken steige. Ich streiche ihr über die Mähne, presse meinen Mund an ihr Ohr und sage: »Bring mich hin. Bring mich zur Höhle meiner Visionssuche, damit ich mich mit meinen Ahnen beraten kann.«
Sowie ich die Höhle erreiche, überspringe ich die körnige, weiße Grenzlinie und gehe direkt zu der Wand mit der langen Liste meiner Ahnen und deren daneben aufgeführten Geisttieren. Mein Blick wandert über Valentina, Esperanto, Piann, Mayra, Maria, Diego und Gabriela bis ganz hinunter zu Paloma, Django und mir. Während ich mit der einen Hand den Beutel an meinem Hals umfasst halte und mit der anderen die Rassel schüttele, rufe ich sie zu mir, um ihnen mitzuteilen, dass ich ihre Hilfe brauche und sie mir zeigen müssen, wie ich den Weg in die Unterwelt finde.
Ich sitze neben ihnen, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine vor mir gespreizt. Dann zwinge ich meinen Geist, ganz ruhig und still zu werden – blende die Unruhe aus, die mich plagt, und bleibe offen für eine Art Zeichen. Auf einmal registriere ich einen zarten Windhauch, der zur Höhle hereinweht. Wirbelnd macht er vor mir Halt und sorgt dafür, dass ich ihn bemerke, ehe er vorüberzieht und bis zu
der Stelle ganz nach hinten fegt, wo die Decke in den Boden übergeht.
Der Wind ist mein Element. Laut Paloma bin ich damit eine Tochter des Windes – etwas, wovon sie sehr angetan war. Doch ein Blick auf diese massive Felswand – so dick und dräuend – reicht aus, um meinen Kopf mit Zweifeln zu erfüllen.
Niemals wird sie nachgeben.
Niemals wird sie zu einem tief darunter verborgenen, mystischen Land führen.
Nicht, dass ich sie nicht schon einmal berührt hätte. Als ich das letzte Mal hier war, bin ich einmal ganz außen herumgegangen und habe mit den Händen jeden einzelnen Quadratzentimeter abgetastet, um zu erspüren, wie groß die Höhle ist. Doch das war, bevor ich die ganze Wahrheit darüber erfahren hatte, wie die Welt funktioniert. Ehe ich lernte, mich auf das Unsichtbare, das Unbekannte zu konzentrieren – und darauf, wie ich es in mein unmittelbares Bewusstseinsfeld locken kann, bis es sich zeigt.
Und es dauert nicht lange, da gerät die scheinbar so undurchdringliche Steinwand vor mir ins Wanken, und mein Wildlederbeutelchen beginnt, wie ein schlagendes Herz zu pochen. Eine Erinnerung daran, dass ich aufhören muss, mit den Augen zu schauen. Aufhören, alles mit der Logik meines Verstands zu bearbeiten, sondern vielmehr auf das vertrauen muss, was ich in meinem Herzen weiß – ganz gleich, wie unwahrscheinlich es auch sein mag.
Ich senke den Kopf tief hinab, strecke die Arme vor mir aus und renne darauf zu.
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