Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
alles zu haben
scheint.
Abends hocken Chris, Marcos und
ich in einer Bar, trinken Bier und schreiben unsere Notizbüchlein voll. Chris
schreibt fast ausschließlich Dinge auf, die sie besonders bewegen oder
beeindrucken. An Marcos’ präzisen Zeichnungen erkennt man leicht den
Architekturstudenten. Ich protokolliere praktisch alles, was mir auffällt — ob
lustig, tragisch, banal, seltsam oder einfach nur neu. Nach wenigen Minuten
gesellt sich eine ältere, sportliche Dänin zu uns. Annemarie ist einundsechzig
und spricht neben Englisch auch ein winzig kleines bisschen Deutsch. Um Bier zu
bestellen, deutet sie auf mein Glas und sagt der Frau hinter der Theke auf Deutsch:
»Ich möchte auch so eins.« Wieso die Dänin auf Deutsch bestellt, bleibt mir ein
Rätsel. Aber ihr Bier bekommt sie trotzdem. »Darf ich mich dazusetzen?«, fragt
sie uns anschließend mit dänischem Akzent. Selbstverständlich darf sie das.
Wir plaudern ein wenig über die
heutige Etappe. Nachdem sie ihr Bier geleert hat, verschwindet sie auch schon
wieder; so unkompliziert laufen Begegnungen auf dem Camino ab. Kurze
Zeit später stößt Daisy zu uns, und beim gemeinsamen Abendessen zu viert
betrinke ich mich unbemerkt, aber hemmungslos mit dem vino tinto de la casa. Während wir so dasitzen und essen, redet sieh Daisy wegen irgendetwas, was ich
nicht mehr besonders bewusst mitkriege, in Rage. Da ich inzwischen recht
benebelt bin, beginnt ihre Stimme schrecklich nachzuhallen. Irgendwie bin ich
von der Guten etwas genervt, denn sie sabbelt und sabbelt und findet weder
Punkt noch Komma. Es scheint um irgendetwas Gesellschaftspolitisches zu gehen,
aber... interessiert das hier jemanden? Als wir später zur Herberge zurückkehren,
informiert sie uns beiläufig, dass sie für heute Nacht noch keinen Schlafplatz
habe. Okay, sie nimmt das Leben ganz schön locker, aber so richtig clever
erscheint sie mir nicht.
»Kann irgendjemand von euch
unten im Bad das Fenster öffnen?«, fragt sie uns. Sobald sich die hospitalera verabschiedet, möchte sie in die Herberge klettern und in der Lobby schlafen.
Chris und Marcos sträuben sich,
ich allerdings sehe das Ganze eher entspannt, ich habe ja auch schon ordentlich
einen im Tee.
»Wenn sie sich nicht
rechtzeitig um einen Schlafplatz kümmert, ist das doch nicht unser Problem«,
sagt Chris. Da hat sie natürlich nicht ganz Unrecht.
Nun ja, die hospitalera denkt gar nicht daran, sich zu verabschieden. Der Grund: Daisy hat ihren
Rucksack in der Herberge stehen lassen, und bevor der nicht abgeholt wird,
rührt sich die dicke, laute Spanierin nicht vom Fleck. Die Angelegenheit wird
mir langsam zu kompliziert, also weise ich Daisy an, ihren Rucksack zu holen
und sich, hinterm Haus zu verstecken. Dort allerdings lernt sie innerhalb von
drei Sekunden einen Österreicher kennen, der verrückt genug ist, sie bei sich
im Zelt schlafen zu lassen. Dabei tendieren seine Englischkenntnisse gen null;
und deutsche Wörter englisch auszusprechen macht noch lange kein Englisch. Ich
jedenfalls bin froh, dass sich die Übernachtungsproblematik so schnell geklärt
und lege mich in mein Einzelbett. Binnämlichziemlichvoll.
Etappe 23: Santiago de
Compostela — Negreira (22,1 km)
Dienstag, 22.
September 2009
Da mir heute laut Wanderführer
etwas über dreiunddreißig Kilometer ins Haus stehen, beschließe ich, die Etappe
nach Olveiroa ruhig anzugehen. Sehr ruhig. Bevor es nach draußen geht, ziehe
ich mir einen Kaffee aus dem Getränkeautomaten im Erdgeschoss rein. Noch vor
sieben Uhr verlasse ich die Herberge. Schon merkwürdig, allein in die
Dunkelheit zu laufen. Die erste Passage durch den Wald gestaltet sich als
kniffelige Angelegenheit, aber meine LED-Stirnlampe hält mich in der Spur.
Hoffentlich treiben sich hier keine Wölfe herum. Leben in Spanien überhaupt
Wölfe? Jedenfalls höre ich überall verdächtige Geräusche. Aber schon bald
gelange ich auf eine hell erleuchtete Schnellstraße, auf der ich etwa zehn
Minuten bis nach Zas wandere. Noch schläft das kleine Dörfchen, und ich habe
das Gefühl, durch eine exzellent gelungene Filmkulisse zu laufen.
Anschließend geht es erneut
durch ein Waldstück. Diesmal muss ich nicht mehr meiner Stirnlampe vertrauen,
denn der Morgen graut. Nebelschwaden verwandeln ferne Täler in mystische Seen,
und die Eukalyptusbäume verströmen einen unvergleichlichen Duft, der mich immer
weiter vorantreibt. Ab und an wird der Camino nun so schmal, dass ich mich
frage, ob
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