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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maori Kunigo
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gleichem
Niveau. Was das Sportliche angeht, übertrifft er mich allerdings mühelos. Er
erzählt mir, dass er bereits auf diversen Fernwanderwegen Europas unterwegs
gewesen sei und bis zu vierzig Kilometer am Tag laufe. Genauso sieht er auch
aus, er wirkt durchtrainiert und voller Energie. Ich finde ihn unheimlich nett,
ein wenig nachdenklich, auf jeden Fall ungemein sympathisch. Früher sei es
anders gewesen, erzählt er mir. Von Arbeit getrieben habe er alles andere
vernachlässigt, Karriere gemacht und Kohle gehortet. Irgendwann sei ihm
allerdings klargeworden, dass er andere Wünsche und Erwartungen im Leben habe.
Nun rast er hier in einem Affenzahn über den Camino, genießt die Natur und übt
sich in Ausgeglichenheit. Auf mich wirkt Ingo glücklich.
    Als wir Burgos endgültig
verlassen, zieht der Himmel zu, es riecht nach Regen. Über Feldwege erreichen
wir das Dorf Tardajos, wo wir direkt an der N-120 eine kurze Rast einlegen.
Nachdem ich mir einen weiteren Milchkaffee eingeflößt habe, geht es auf
asphaltierten Straßen respektive Wegen nach Rabé de las Calzadas. Der Ort ist
lediglich einen Katzensprung entfernt und wird von der unverhältnismäßig
dimensionierten Pfarrkirche Santa Marina überragt.
    Ab hier beginnt die
sagenumwobene Meseta. So wird das kastilische Hochland bezeichnet, das sich
praktisch komplett über die Iberische Halbinsel zieht. Das Iberische Scheidegebirge
teilt es in Nord- und Südmeseta, der Camino verläuft durch den Nordteil. Kaum
dass wir das Dorf verlassen haben, erstreckt sich vor uns ein Weg ins
Unendliche, flankiert von abgeernteten Feldern bis zum Horizont. Die
überwältigende Weite ist kaum in Worte zu fassen Glücklicherweise hält die
Wolkendecke die Außentemperatur in äußerst angenehmen Bereich. Noch ist der Weg
abwechslungsreich, leicht hügelig und mit Kurven gespickt. Was mein
Wanderführer für die kommenden Tage ankündigt, bereitet mir allerdings Sorgen.
    Während sich die anderen mehr
oder minder fröhlich miteinander unterhalten, halte ich etwas Abstand und laufe
für mich. Ich grüble. Ich sehe Avril mit Melanie laufen, Marcos mit Ingo,
Michelle mit Jörg. Avril habe ich am liebsten gewonnen, weil sie einfach so
distanzlos mit ihren Schwächen umgeht. Mit überwältigender Wärme zeigt sie mir
immer wieder, wie sehr sie mich schätzt, während eine trödelnde Kellnerin
gleich in akute Lebensgefahr gerät. Sie kann so eine Pedantin sein, um sich im
nächsten Augenblick in den Genussmenschen schlechthin zu verwandeln. Melanie
ist eine Chaotin mit einem Wahnsinnshumor, mit ihr habe ich gelacht wie schon
seit Ewigkeiten nicht mehr. Allerdings kann sie schmerzhaft zickig werden und
verkriecht sich lieber ins Schneckenhaus, anstatt unangenehme Dinge
anzusprechen. Anders als Avril spricht sie kaum über persönliche Ängste.
Michelle betrachte ich als eine Pilgerfreundin mit großem Herz und den
einfachen Antworten. Sie sieht die Welt aus einer entwaffnend simplen
Perspektive, dass sie häufig die kompliziertesten Hirnkonstrukte ihrer
Mitmenschen zum Einsturz bringt. Manchmal sieht sie die Dinge allerdings zu einfach, was zu unangenehmen Missverständnissen führen kann. Wenn ich nur daran
denke, die Drei heute das letzte Mal zu sehen, wird mir schlecht. Werde ich
morgen wieder ganz allein über den Camino dackeln? Alles von vorn? Werde ich
bis Santiago de Compostela, und es sind laut meinem Wanderführer noch schlappe
vierhundertneunzig Kilometer, noch einmal solch großes Glück mit neuen
Pilgerfreunden haben? Andererseits stehe ich mir natürlich die Frage, wieso ich
hier bin. Möchte ich mit netten Freunden einen entspannten Ausflug in die Natur
unternehmen? Oder mich ein wenig gründlicher verstehen, einfach mal klarkommen,
mich trauen? Wenn ich mich jetzt nicht überwinde, trotz widriger Umstände
meinem Bauchgefühl zu folgen, werde ich mir nicht nur Vorwürfe machen. Ich
würde mich fragen, was für ein lausiger, erbärmlicher Schisser ich sei. Jetzt
habe ich mich schon mal allein auf den Camino getraut, ich muss meinen Weg kompromisslos
durchziehen. Der Entschluss steht.
    Als wir um halb zwei das
winzige Hornillos del Camino erreichen, hat die Sonne die Wolkendecke endgültig
durchbrochen. Es dürfte locker um die dreißig Grad warm sein. Wir treffen Lory
wieder, die spirituelle Amerikanerin. Sie wird heute hier bleiben und sich
ausruhen. Für sie sind die Anstrengungen der letzten Wochen einfach zu viel. Ab
sofort will sie etwas kürzer treten, und wir

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