Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
quer
durch den Raum mitten ins Gesicht. Am liebsten würde ich jetzt aufstehen, ihr
das Ding in den Mund stopfen und mich wieder schlafen legen. Allerdings siegt
die Müdigkeit, also drehe ich mich einfach um.
Ich wache erneut auf. Draußen
ist es bereits hell, fast alle Betten sind leer. Ich habe fantastisch
geschlafen, fühle mich kraftvoll und erholt. Erst einmal lerne ich Jörg kennen,
Melanies Ex. Der sucht ihre Nähe, sie weicht ihm aus. Hey, ich freue mich schon
richtig darauf zu erfahren, wie es mit den beiden auf dem Camino weitergeht.
Nicht. Wenigstens ist er ein netter Junge. Aber wie kann man sich so etwas
geben? Seb musste letztes Jahr beinahe das Gleiche durchmachen, ist dem aber
ausgewichen, was sich im Nachhinein als einzig richtige Entscheidung
herausgestellt hat. Wenn meine Ex hier rumlaufen würde, ich wäre so was von auf
dem Küstenweg, aber ganz sicher. Wahrscheinlich würde meine Ex das Gleiche denken
und auch auf den Küstenweg ausweichen. Egal, ich verstehe mich mit meiner Ex
ausgezeichnet. Die beide dagegen haben sich im Streit einen Tag vor ihrer
Abreise getrennt. Der portugiesische Weg soll übrigens auch sehr schön sein.
Kaum sind wir im Aufenthaltsraum,
werden wir von den beiden hospitaleros freundlich, aber bestimmt
hinausgeworfen. Schnell wie ein Burger-King-Angestellter bastle ich mir noch
zwei bocadillos. Avril, Michelle, Melanie und Jörg haben beschlossen,
meinem Plan zu folgen und die einunddreißig Komma sechs Kilometer zu
bewältigen. Eigentlich sollte ich mich freuen, sie weiter bei mir zu haben,
zweifle allerdings am Sinn. Besonders für Avril sehe ich nach der gestrigen
Etappe eine solche Distanz als eher kritisch. Wir werden sehen, was der Tag
bringt. Gut gelaunt verlassen wir die Altstadt und laufen durch einige typisch
urbane Gassen. An einer Bar lasse ich die anderen wissen, dass ich mir jetzt
einen Kaffee genehmigen möchte, und trete ein. Während der Rest ohne mich
weiterzieht, schlürfe ich meinen café con leche und lausche den Geplärre
aus dem Fernseher, der in der Ecke hängt. War das eine seltsame Atmosphäre
heute Morgen, als ich Jörg kennen lernte. Er versuchte nett zu sein, ist den
ganzen Morgen schon betont fröhlich und redselig, aber irgendwie beschleicht
mich das Gefühl, dass er hier fehl am Platz ist. Nicht, dass ich ihm die
Legitimation abspräche, hier herumzuwandern, nein. Aber durch seine Ex lässt er
sich zu einem Verhalten hinreißen, dass er überhaupt nicht nötig hätte. Jetzt
kann ich mir also bis Hontanas das Theater zweiter frisch getrennter Studenten
ansehen. Der Prolog lässt das Niveau dessen schon erahnen. Jörg bildet, so
wenig er selbst dafür verantwortlich ist, eine unnötige Störung der
Gruppenatmosphäre, Melanie scheint alles mit sich selbst auszumachen, und
solange ihr Gehirn rattert, schweigt sie. Durch den gestrigen Tag hat sich
zwischen Avril und Michelle etwas eingeschlichen, das ich momentan eher
unverbindlich als Distanz bezeichnen möchte. Alles in allem ist die Gruppe tot,
so traurig mich das macht. In der Konstellation werden wir nicht besonders
lange unterwegs sein, davon bin ich überzeugt. Mit gemischten Gefühlen verlasse
ich die Bar.
Rasch hole ich die ganze Bande
ein und schließe mich ihnen wie abgesprochen wieder an. An einer Ampel wartet
ein junger Pilger. Saubere Kleidung, zusammengerollte Isomatte, frisch
rasiertes Gesicht und vornehme Blässe. Wir gesellen uns dazu, und Avril spricht
ihn übermütig auf Englisch an.
»Und wer ist unser junger
Freund hier?«
»Hi, ich bin Marcos.«
»Hi Marcos, großartig dich
kennen zu lernen. Das ist Maori, das ist Melanie, ich bin Avril.«
»Hi Leute.«
»Und woher kommst du, Marcos?«
»Aus Madrid.«
»Oh, ein Spanier! Endlich haben
wir einen Spanier unter uns!«
Wir lachen. Marcos ist gebürtiger
Madrilene, wohnt und studiert allerdings momentan in Valladolid, ist
dreiundzwanzig Jahre jung und auf den ersten Kilometern seines Jakobsweges. Mit
seiner Brille, dem kurzen, lockigen Haar und dem hellen Teint sieht er
überhaupt nicht spanisch aus, eher wie ein Plattenverkäufer aus dem Hamburger
Schanzenviertel. Im Gegensatz zu meinen gestrigen Tischfreunden spricht Marcos
ein hervorragendes Englisch, so dass er sich gleich mit Avril verquatscht.
Wenige Minuten später lernen wir auch noch Ingo kennen, einen
dreiundvierzigjährigen Unternehmer aus Osnabrück. Sein Englisch ist nicht ganz
so perfekt, ich würde behaupten, er und ich bewegen uns in etwa auf
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