Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
beschließen, sie
nicht weiter zu beachten, und plauschen ein wenig. Chris erzählt, dass sie in
Saint-Jean-Pied-de-Port gestartet sei und aus Bochum komme. Ihr Englisch
besitzt einen eindeutig US-amerikanischen Einschlag, und auf Nachfrage erfahren
wir, dass dies von einem mehrmonatigen USA-Aufenthalt herrührt. Ihr
Lieblingswort ist »obviously«, offensichtlich, sie benutzt es permanent.
Hinterher sitzen wir noch zu
dritt vor der Herberge, ein wenig abseits des vollbesetzten
deutsch-österreichischen Tisches. Seit Logroño habe ich nicht mehr so viele
deutschsprachige Pilger auf einem Haufen gesehen. Vorhin saßen Marcos und ich
unter anderen mit Adam aus Bielefeld, Manfred aus Niederösterreich und Martina
aus Hamburg an einem Tisch. Martina klagte uns ihr Leid, wurde sie doch in der
Herberge von Calzadilla de la Cueza von Bettwanzen zerbissen. Sie vermutet,
dass sie die Parasiten aus Villalcázar de Sirga mitgeschleppt hat. Dort gab es
in der Nacht zuvor Bettwanzenalarm. Um zwei Uhr nachts ging plötzlich ein
Geschrei los, das Licht wurde angeknipst, und der Schlafsaal stand kopf.
Horror.
Jetzt sitzen Marcos, Chris und
ich an der Einfahrt und lassen den Abend bei Billigbier und Zuckerwasser
ausklingen.
Etappe 9: Calzadilla
de la Cueza — Sahagún (22,9 km)
Dienstag, 8. September 2009
Meine Füße sind taub. Und ich
hasse Römer. Die alten, wohlgemerkt. Für den heutigen Tag stehen uns zwei
Routen zur Auswahl Route Nummer eins führt an einer Landstraße entlang
schnurgerade nach Reliegos. Route Nummer zwei ist etwas länger, biete aber laut
Wanderführer »landschaftlich (...) ein ganz spezielles Erlebnis« über die Via
Trajana. Eine alte Römerstraße, richtig. Spätestens jetzt würden bei den
meisten die Alarmsirenen schrillen aber natürlich nicht bei uns. Wir haben nur
im Kopf: »Landschaftlich ein ganz spezielles Erlebnis«.
Um kurz nach sechs starten wir
in die Dunkelheit. Schon innerhalb Sahagúns verlieren wir in der gelben
Straßenbeleuchtung die gelben Pfeile aus den Augen. Als wir dann auch noch
wegen der unzureichenden Wegbeschreibung im Wanderführer drei Kilometer hinterm
Ortsausgang falsch abbiegen, liegt meine Laune bereits am Boden. Kurze Zeit
später dann auch meine Digitalkamera, die ich versehentlich fallen lasse. Meine
Halsschlagader droht zu platzen. Über einen breiten, mit widerspenstigem
Schotter übersäten Feldweg geht es gut zwei Stunden lang durch eine
Savannenlandschaft Nordafrikas nach Calzadilla de los Hermanillos. Und
unerbittlich klettert die Sonne den Himmel hinauf; ich spüre, wie es immer
wärmer wird. Morgens zeigt das Thermometer um die elf Grad an, bei
Sonnenaufgang meist um die vierzehn bis sechzehn Grad. Danach klettert die
Anzeige gerne bis vierzig, je nach Lust und Laune. Dabei wüten in anderen
Teilen Spaniens momentan brachiale Herbststürme, Santander steht längst unter
Wasser. Meistens hocken wir morgens in einer Bar, sehen im spanischen Fernsehen
Autos durch die Gegend schwimmen, ehe wir uns die Sonne begeben und uns rösten
lassen. Apropos rösten: Als Jakobspilger wird man nur auf der linken Seite
gebräunt, schließlich läuft man die ganze Zeit nach Westen. Wie Dönerfleisch,
das sich nicht dreht. Während also mein linkes Ohr inzwischen ziemlich
zerfleddert aussieht, zeichnet sich mein rechtes durch vornehme Blässe aus.
Als wir um kurz vor zehn den
letzten Ort vor unserem heutigen Etappenziel Reliegos verlassen, erwartet uns
eine fast achtzehn Kilometer lange Strecke ohne Einkehrmöglichkeiten, ohne
Schatten, ohne Brunnen oder sonstige Rastplätze. Zunächst laufen Marcos und ich
auf einer welligen, asphaltierten Landstraße bis zu einer Kreuzung, just in
diesem Moment kommt von rechts ein alter Mann dahergeradelt. Ein Einheimischer,
zumindest vermute ich das.
»Ah, peregrinos «,
bemerkt er und hält an. »Wohin des Weges?«, fragt er uns.
»Nach Reliegos«, antwortet
Marcos und deutet auf die Wüste vor uns.
»Wirklich?« Der alte Mann
staunt. »Das ist eine sehr anstrengende Strecke, besonders heute bei der
Hitze.«
Ja, soweit sind wir
mittlerweile auch.
»Kennen Sie die Strecke?«,
fragt Marcos ihn.
Er nickt. »Ja, ja, natürlich.
Da ist nichts auf der Strecke, nur der Weg. Um diese Zeit sollte man allerdings
nicht laufen, es sind schon viele Pilger in der Hitze gestorben.«
Wie bitte? Wieso kommt mitten
im Nichts ein alter Mann dahergeradelt und prophezeit uns den Tod? Das passt
uns jetzt aber gar nicht.
»Na dann«, der
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