Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
ziemlich schweigsames Büchlein zu
sein, schließlich gehört Tomás zu den berühmtesten Persönlichkeiten des Weges.
Aus welchen Gründen auch immer,
es strengt mich ein wenig an, mit Abe-san zu reden. Er ist nett, sicherlich,
aber auch ein wenig speziell. Zudem kommt er mir für einen Japaner ein wenig zu
nahe. Abe-san ist der dritte Japaner, den ich kennen lerne, nach Iguchi-san und
Kazuko. Sie alle entsprechen überhaupt nicht der gesellschaftlichen Norm
Japans. Aus Deutschland herzukommen und den Weg zu gehen erscheint mir
verglichen mit dem Aufwand und den Risiken der japanischen oder koreanischen
Pilger kinderleicht. Ich respektiere also Abe-sans Leistungen durchaus, nur
möchte ich gerade nicht von ihm bedrängt werden, und so wende ich mich lieber
meinen Pilgerfreunden zu. Sogleich heftet sich mein Landsmann an den Denker,
was dieser erfreut zur Kenntnis nimmt. Endlich jemand, der freiwillig auf ihn
zugeht.
Chris, Gill, Marcos und ich
hocken am großen Tisch und genießen das milde Wetter hier oben. Der einmalige
Panoramaausblick weckt Sehnsüchte, und an die Ruhe müssen wir uns noch
gewöhnen. Ab und an flitzen Radpilger an uns vorbei, bemerken nicht einmal die
Magie dieses besonderen Ortes, und schießen mit atemberaubender Geschwindigkeit
Richtung El Acebo. Marcos hat seine Landkarte ausgebreitet und grübelt über die
nächsten Etappen. Chris widmet sich ihrem Tagebuch. Gill genießt einfach den
Moment und hat sich eine Zigarette angezündet. Ich versuche, die Stimmung in
mich aufzunehmen und den Augenblick wertzuschätzen. Nach einer Weile werden mir
Aufnehmen und Wertschätzen etwas langweilig, so dass ich mich auf einen camino
walk durchs verfallene Dorf begebe. Nur wenige Häuser haben Tomás und seine
Helfer restauriert, die anderen rotten einfach vor sich hin. Über einen
rutschigen Hang klettere ich in die ehemalige Kirche, in der Tomás ein
provisorisches Holzkreuz an die Wand genagelt hat. Vor zweihundert Jahren saßen
hier in der Iglesia de San Martín die paar Einwohner von Manjarín, sangen und
beteten. Inzwischen ist bis auf wenige Mauern alles eingestürzt und
überwuchert. Die Ruinen an der Straße sehen aus wie überdimensionale
Blumenkästen, aus denen Bäume wachsen.
Geisterdörfer und — Städte
haben mich schon immer fasziniert. Jedes Mal, wenn ich in Dokumentationen über
den Wilden Westen oder die Kolonialzeit in Afrika ausgestorbene Siedlungen
sehe, möchte ich direkt vor Ort sein und die Hinterlassenschaften längst
vergangener Leben inspizieren. Etwas, das für zahlreiche Menschen ihr
Lebensmittelpunkt war, ist nur Jahrzehnte später längst vergessen. Ich denke,
ich bin immer wieder von solchen Orten fasziniert, weil sie in aller Stille
unsere Vergänglichkeit aufzeigen. Sie rücken insgesamt die Relationen der
Selbstwahrnehmung zurecht. Menschen neigen ja dazu, sich als das Geilste und
Wichtigste auf Erden zu betrachten. Und nicht umsonst stellen viele Religionen
den Menschen über alle anderen Lebewesen; wir sehen ja überdeutlich, tagtäglich
in den Nachrichten, wohin der Schwachsinn führt. Ich bin ehemaliger
Waldorfschüler, und mein damaliger Klassenlehrer wollte uns beibringen:
»Menschen sind keine Tiere.« Ich widersprach ihm und erklärte ihm die
Evolutionstheorie. Da war ich etwa elf Jahre alt und interessierte mich
wahnsinnig für Dinosaurier. Aber meine Argumentation schien ihn nicht zu
überzeugen, schließlich war er der Überzeugung, Gott habe die Menschen
erschaffen. »Das steht in der Bibel«, pflegte er immer zu sagen. Als ich ihn
fragte, wieso Dinosaurier nicht in der Bibel auftauchten, sondern einzig und
allein die Tiere, die zur Zeit der Evangelisten bekannt gewesen seien, konnte
er mir nicht antworten. Das muss so die Zeit gewesen sein, als ich mich der
Gottestheorie entsagte und atheistischer Vernunftmensch wurde. Ich vertrete die
Theorie, dass es das Wesen Gott nicht gibt. Allerdings stelle ich im Gegensatz
zu vielen Atheisten die Existenzberechtigung von Religionen nicht in Frage,
solange sie zum Glück der Menschen beitragen. Führen sie allerdings zu Krieg
und Hass, Hunger und Tod, so liegt das weder an Gottes Befehlen noch an
heiligen Prophezeiungen, sondern einzig und allein an der schier endlosen
Dummheit der Menschen. Jeder Mensch auf der Welt sollte akzeptieren, dass
Religionen und Gott respektive Götter aus der Menschheit heraus entstanden sind
und nicht andersherum. Nur dann würde der Glaube an sich den Großteil der
Lächerlichkeit
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