Vom Schlafen und Verschwinden
und der Mond darauf scheint, wogt der Acker wie ein Meer mit Streifen aus bläulich weißer Gischt. Und wenn sich die Plastikfolie aus der Befestigung löst und im Wind hin- und herschlägt, kann ich in manchen Nächten die Nordsee hören.« Und dann musste sie rasch fort.
So war sie. Sie konnte in einer zerfetzten Plastikfolie das Meer sehen. Bei mir ist es umgekehrt. Ich höre das Sirren fliegender Schwäne und sehe Elektrizitätswerke.
Ist der Schlaf der Hüter des Traums oder der Traum der Hüter des Schlafs? Wenn der Schlaf dem Leben nähersteht als dem Tod, so steht das Wachsein, das Erreichen vollkommenen Bewusstseins, dem Tod näher als dem Leben. Wachsein, Müdigkeit, Schläfrigkeit, alle Unterschiede scheinen sich zu verflüssigen. Liquidierte Gedanken werden Träume werden herausgerissene Unterwassergewächse. Wächsern ist die Haut von Entschlafenen. Ich bin wach.
Immer noch.
Immer, immer noch. Den morgigen Tag kann ich vergessen. Ich wünschte, er wäre schon vorbei.
Als ich am Bett meiner sterbenden, schlafenden Mutter saß, fragte ich mich, ob es einen Unterschied gab zwischen den Erinnerungen an jemanden, der gestorben war, und den Erinnerungen an jemanden, der selbst alles vergessen hatte. Ob man im letzteren Fall nicht versuchte, das Gedächtnis der Person zu sein? Die Erinnerungen, die man an jemanden hatte, waren ganz anders als die, von denen man annahm, die Person könnte sie gehabt haben. Welche waren wahrhaftiger? Oder schlossen sich Erinnerung und Wahrhaftigkeit nicht von vornherein aus?
Als sie dort lag, streng und breitschultrig und mit schwerem Atem, wusste ich längst, dass sie gehen würde und dass es besser war für sie. Doch als sie über Wochen dalag, als der Altweibersommer verstrich, der Herbst kam und wieder ging, und als es kalt wurde, begann ich zu glauben, dass sie für immer dort liegen würde oder zumindest für die nächsten hundert Jahre und dass es gut wäre, wenn es ihre schönen runden Schultern in den verschiedenen Baumwollnachthemden, die die Schwestern am Rücken aufgeschnitten hatten, um sie besser anziehen und säubern zu können, weiterhin gäbe. Zwar war kaum noch etwas von ihr da, aber immerhin noch genug, das einem fehlen würde. Ich kannte ihren Körper so gut. Vieles daran hatte sich im Laufe der Jahre verändert, nur ihre Schultern nicht. Im Rollstuhl war ihr Bauch wabbelig geworden. Doch alles Weiche verschwand in diesem letzten Schlaf. Das Gebiss war weg, und ihre Lippen fielen in den Mund. Es war, als läge auf ihrem Gesicht ein Spinnennetz mit einem Loch in der Mitte. Wenn sie gähnte, sah ich den olivgrünen Belag getrockneten Schleims an ihrem Gaumen. Joachim, der kein Blut sehen konnte, der mädchenhaft schauderte, wenn ihm Berichte von Eiter, Wunden oder Exkrementen zu Ohren kamen, entfernte diesen Belag regelmäßig und genau. Mit einem langen Wattestäbchen fuhr er zwischen die goldenen Stümpfe in ihren Kiefern, auf denen früher das Gebiss gesteckt hatte, löste die grünen Stellen und zog sie ihr triumphierend aus der Mundhöhle.
Das Gebiss hatte sie erst spät bekommen, doch schon vorher waren Heidruns Zähne Fremdkörper gewesen. Als ich ungefähr vierzehn war, feilte der Zahnarzt ihre Zähne zu schmalen Stummeln und setzte ihr Jacketkronen ein. Er war ein freundlicher, älterer Mann, doch wenn er lächelte, entblößten seine Lippen zwei gewaltige Reihen dicker, graubeiger Zähne, und es schien mir, als grinste mich schon sein Totenschädel an. Dass er die Lippen wieder darüberziehen konnte, erstaunte mich jedes Mal aufs Neue. Als Heidrun mich das erste Mal damit anlächelte, sah ich, dass er ihr genau die gleichen Zähne gemacht hatte wie die, die er selbst im Mund trug. Ich habe meine Mutter weder davor noch danach je wieder so bitterlich weinen sehen wie an dem Tag, an dem sie mit diesen dicken, toten Zähnen nach Hause kam. Nicht einmal in den Anfängen der Demenz, als sie noch merkte, was mit ihr geschah, weinte sie mit einer ähnlich wilden Verzweiflung. Sie konnte sich selbst im Spiegel nicht mehr wiedererkennen. Wenn sie lachte, war es am verstörendsten. Bis zu ihrem Tod habe ich mich nicht an ihr neues Lachen gewöhnen können. DasTraurigste war jedoch, dass ich vergessen hatte, wie das alte ausgesehen hatte.
Ihre Haare wurden wieder dunkler, während sie im Koma lag, grauer. Früher waren sie weiß. Aus medizinischer Sicht konnte das nicht sein, also erklärte ich es mir dadurch, dass ihre Haare vielleicht weniger oft
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