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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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zwar kein Obdach, aber einen Raum.
    – Zumindest bis zum nächsten Regen, fügte er trocken hinzu und zuckte mit den Schultern.
    Orla fand, unser Haus in Grund sei am besten, wenn es regnete.
    Wenn der Himmel grau war und der Rhein auch und die Wolken in den Fluss zu strömen schienen, gab es ein gewaltiges Rauschen, das unser ganzes Haus erfüllte. Der Regen prasselte auf die Fensterscheiben, auf das Dach mit den schrägen Fenstern, unter denen unsere Betten standen. Er tropfte auf die Blätter des Rheinwalds, und es wurde ringsum so laut, dass man rufen musste, um bei Tisch miteinander zu sprechen. Im Sommer dämpfte das Rauschen sogar das Gebrüll der Ochsenfrösche, die zu Hunderten aus dem See schauten, sobald es anfing zu regnen. Der See war einen Kilometer vom Haus entfernt, aber das Dröhnen der Frösche erreichte uns nahezu ungefiltert. Keiner konnte sagen, woher sie kamen. Meistens hieß es: Die Kurzschlussreaktion eines illegalen Tierhändlers, der aufzufliegen drohte. Oder vielleicht ein Dummerjungenstreich. Und ein paar badische Freischärler bestanden darauf, »dass d’Viecher vun Schwobe riwwer g’hopft sei misse«. Ich hatte nur einen Menschen in Grund gekannt, der Ochsenfrösche besessen hatte, und der war verschwunden. Seine Ochsenfrösche waren auch verschwunden. Ich glaubte aber nicht, dass er sie mitgenommen hatte. Jedes Mal, wenn ich sah, wie die Frösche aus dem See stiegen, wenn ich von Weitem ihre Stimmen vernahm, die wie Celli und Kontrabässe klangen, überkam mich dasselbe Unbehagen.

    Ich verstand, warum Andreas sie töten musste. Noch nie hatte ich einen marinierten Frosch bei ihm gekauft. Es wäre mir vorgekommen wie Kannibalismus. Aber angeblich waren sie köstlich. Einmal sah ich, wie Marthe Grieß nach der Chorprobe bei ihm einen Frosch kaufte.
    – Vielleicht sollte ich auch mal einen probieren.
    Er musterte mich kalt und wandte sich sofort wieder Marthe zu, die er freundlich anlächelte.
    Andreas wusste genauso gut wie ich, dass Lutz damals Ochsenfrösche besessen hatte. Er hatte sie sich in einer Zoohandlung in der Stadt besorgt. Sein Vater hatte es erlaubt, denn der verstand den Wunsch nach einem Tier, das nicht zum Liebhaben war. Die Vermenschlichung von Tieren war Lutz’ Vater suspekt. Seine Vogelstudien betrieb er aus Verehrung und mit dem größten Respekt.
    Außerdem wird es ihm ein Gefühl von Komplizenschaft gegeben haben, dass er seinem Sohn ein Tier gewährte, das dieser zu Hause bei seiner Mutter niemals hätte halten dürfen.

11.
    Dienstag, 1. Oktober,
    Orla fehlt entschuldigt, muss Erdkunde lernen.
     
    Die Hochspannungsmasten stehen in Reih’ und Glied bis zum Horizont, eine Armee stählerner Roboter, die Hände mit Kabeln verbunden, durch die sie ihre Kommandos erhalten. Die schwarzen, durchhängenden Seile vergittern den diesig weißen Himmel. Bei Nebel surren sie manchmal.
    Ich sehe Orla oft dort liegen. Selbst an kühleren Tagen. Wenn sie mich entdeckt, setzt sie sich auf und fragt mich etwas über Vögel oder Pflanzen. Vielleicht will sie nur höflich sein, aber ich glaube nicht. Sie ist ein seltsames Kind, so ruhelos wie ich.
    Und wie ich streift sie durch die Gegend. Orla kann mich sehen. Das sehe ich. Doch ich weiß nicht, ob ich das schätze oder ob es mich beunruhigt. Vielleicht beides, schließlich wollen alle Menschen gesehen werden. Ich glaube nicht, dass Lutz verschwunden ist, ich glaube, er ist tot. Er hat nie zu denen gehört, die nicht gesehen werden möchten, und selbst die wollen gesehen werden.
    So wie ich von Orla gesehen werden will.
    Orla fragt mich, ob die Vögel, die im Winter auf den Überlandleitungen sitzen, sich dort die Füße wärmen könnten. Sie stellt sich vor, der Strom, der mal von der einen, mal von der anderen Seite durch die Leitungen fließt, sei warm.
    »Wer auf dem Rücken unter einem Hochspannungsmast liegt und durch das schwankende Stahlnetz wie durch ein Fernrohr nach oben schaut«, sagt sie mit ihrer tiefen Stimme, »kann, falls es ihm gelingt einzuschlafen, ganz von hier verschwinden.«
    Nur wohin, das wisse man vorher nicht.
    Aber ich sehe das nicht. Ich sehe das Gitter aus Überlandleitungen und Kondensstreifen, Hagelnetze über Himbeerhecken, Apfelbäume an Drahtzäunen und auf den Spargelfeldern die langen Reihen weißer Plastikfolie. In alle Richtungen ist gesperrt.
    Als ich einmal vor Heidrun über all diese Zäune in der Landschaft klagte, sagte sie:
    »Wenn sich der Wind nachts in der Spargelfolie verfängt

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