Vom Schlafen und Verschwinden
wusste ich nicht, das war auch nicht so wichtig, ich war viel zu verwirrt, um klare Gedanken zu fassen, und genau das war schließlich der Grund, warum ich jetzt dringend nachdenken musste.
Benno riss mich aus meinen Grübeleien.
– Siehst du? Es ist ein Labyrinth.
Ich nickte. Ja, wenn man so wollte, verwirrend jedenfalls.
– Nein, wirklich, ein Maislabyrinth. Schau.
Ein Rascheln, und schon war er in dem grünen Dickicht, das vor uns lag, verschwunden.
Die Felder gehörten dem Bauern Roth, und wirklich, gleich neben dem Weg klaffte eine dunkle Lücke im Feld. Ein niedriges weißes Schild mit einem von Orlas Labyrinthen darauf war selbst um diese Tageszeit nicht zu übersehen: MAISLABYRINTH , die Schrift war von Adrian, das konnte ich mittlerweile erkennen. Es war September und immer noch heiß. Der Mais war fast reif. Ich ging auf das dunkle Loch zu, den Eingang des Labyrinths. Die Maispflanzen reichten bis zu einem Meter über meinen Kopf. Es roch nach Schlamm, nach Ernte und nach etwas Metallischem, aber auch nach frischen Blättern und ein wenig getreidig, nicht süß. An den dicken Stielen wuchsen die Kolben schräg nach oben, und aus ihren Spitzen quoll das helle, transparente Maishaar, das später, wenn es trocknete, rotbraun und lockig wurde. Ich dachte an Orla und ging nicht weiter.
Ein paarmal rief ich noch nach Benno, aber er kam nicht wieder zum Vorschein. Was wollte ich von ihm? Ich konnte so etwas jetzt nicht gebrauchen, ich hatte andere Sorgen. Ichriss einen Maiskolben ab und zog ihm die festen Blätter herunter. Das kühle Maishaar rann mir durch die Finger. Es war nur Futtermais, und ich wusste, dass man ihn eigentlich nicht essen konnte. Aber schon als Kinder konnten wir es nicht lassen, wenigstens einmal im Sommer zu probieren. Wie erwartet war er hart, mehlig und schmeckte vor allem nach den Blättern, die ihn umhüllt hatten. Ich schleuderte ihn auf den Weg, murmelte »dann eben nicht«, schwang mich auf mein Rad und fuhr nach Hause.
Während ich noch nach meinem Schlüssel kramte, hörte ich das Kratzen seines Fahrradständers auf dem Asphalt vor meinem Haus.
– Ellen!
Er musste wirklich schnell gefahren sein. Ich zögerte, tat, als hätte ich ihn nicht gehört, und wühlte weiter nach meinem Schlüssel.
Zeit, ich musste Zeit gewinnen.
Benno Hoffmann war ein junger, vielversprechender Historiker, vielleicht war er ein bisschen zu streng mit sich, ein bisschen zu hoch in seinen Ansprüchen, ein bisschen zu perfektionistisch, aber das konnte ja in diesem Beruf nicht schaden und nutzte sich früher oder später ohnehin ab. Er promovierte an der Universität Heidelberg und hatte ein prestigiöses Stipendium, prestigiös, das war das Wort, das er benutzte. Seine Doktorarbeit schrieb er über das Ausbildungslager der Schutztruppen für die ehemaligen deutschen Kolonien in Südwestafrika. Denn mindestens eines dieser Ausbildungslager musste sich hier befunden haben, in den Rheinauen um Karlsruhe. Nur wo genau, das musste Benno noch herausfinden.
Benno hatte seine Arbeit ursprünglich über die Truppen schreiben wollen, die in Afrika stationiert gewesen waren. Im Freiburger Archiv für Militärgeschichte war er auf dieBriefe eines Soldaten gestoßen, die noch nicht ausgewertet worden waren. Der Soldat hieß Hugo Schwindt und schrieb seiner Mutter in Kehl lange Briefe über das Leben im afrikanischen Busch. Er schrieb über das Geschrei der Hyänen in der Nacht, über die herablassende Eleganz, mit der Giraffen durch ihre langen Wimpern blickten, er schrieb über zutrauliche schwarze Menschen, mit denen er sich anfreundete und seltsame Zigarren rauchte, die mit Kräutern und Stachelschweindung gefüllt waren. Er schrieb über den Salbeigeruch, der über der trockenen Landschaft hing, und darüber, dass alles ein bisschen aussah wie zu Hause. Nur brachen statt der Ziegen Antilopen durch die Büsche, die Ponys waren gestreift – »sogar die Mähne!« – und hießen Zebras, und die Hasenlöcher wurden von Erdferkeln gebuddelt. Löwen habe er noch keine gesehen, nur Ameisenlöwen. Die kleinen Insekten bauten sich einen Trichter in den trockenen Sand und stürzten sich dann auf abgerutschte Ameisen, aber so etwas gebe es auch daheim. Das Nashorn, das unter einem Baum gelegen habe, sei tot gewesen und das Horn abgesägt. In Afrika raschle das Laub, weil die Hitze es versenge, daheim kneife es der Herbst von den Ästen. Er schrieb über die runden Lehmhütten der Menschen und ihre weißen
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