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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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zwar mit mir.
    Er streckte den Fuß nach meinem Rad aus und bremste mit seinem Schuh mein Vorderrad. Ich konzentrierte mich so sehr darauf, nicht hinzufallen, dass ich nicht bemerkte, wie er zudem noch an meinen Lenker griff und die Handbremse zog. Da fiel ich hin. Er hielt an, stieg ab und zerrte mich auf die Beine.
    – Entschuldigung, ich hätte erwartet, dass du besser bremsen kannst. Komm, da hinten war der Eingang, ich bin mir ganz sicher.
    – Welcher Eingang, welches Maislabyrinth, hier gibt es keines. Ich fahre diese Strecke täglich mehrmals.

    Ich rieb mir das Schienbein, das ich an meiner Pedale aufgeschrammt hatte.
    – Außerdem: Bist du total bescheuert, dass du mitten im Fahren meine Handbremse ziehst?
    – Ja, vielleicht, aber das ist nicht meine Schuld, o nein. Bevor ich dich kannte, war ich nicht so. So bescheuert oder wie auch immer.
    – Das kann jeder sagen.
    – Es tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht, dass du hinfällst, aber jetzt, da es passiert ist und dir nichts fehlt, ist es ja nicht so schlimm, finde ich.
    – Schön, dass du das so sehen kannst, wirklich. Darauf kommt es nämlich total an, wie du das findest.
    – Jetzt schrei nicht gleich. Du bist immer so souverän und immer Herrin aller Lagen, und du sagst: »Schätzchen, geh und such dir ein Hobby, hm?«, und du weißt alles über Frösche und hast einen Doktortitel und ein Kind, und du knipst im Fahren meinen Dynamo aus, und du bist schön und klug, und da ist es geradezu eine Beruhigung, dass du eine Schramme am Schienbein haben kannst, ich meine, als Beweis, dass du eine von uns bist.
    – Falsch! Ich bin keine von euch, jedenfalls nicht von dir, und Schätzchen habe ich nicht zu dir gesagt, du bist nämlich keins, und hör doch auf mit deinen albernen Komplexen, jeder weiß, dass Ärzte ihre Titel auf dem Jahrmarkt schießen, ja, wirklich, fast jeder Jahrmarkt hat einen Stand, wo medizinische Doktorarbeiten auf Gipsstängchen stecken, du musst nur ein paarmal darauf schießen, schon fällt eine runter, und du nimmst sie mit nach Hause. Deswegen musst du mich doch nicht gleich vom Fahrrad werfen, oder brauchst du so was? Fühlst du dich dann stark und mächtig oder was?
    Benno kam rasch näher, in dem schwindenden Licht sah ich sein Gesicht nur verschwommen, aber an seinen präzisen Bewegungen konnte ich erkennen, dass er gereizt war.

    – Ich sagte doch, ich wollte nicht, dass du hinfällst, du hörst auch nur das, worauf du gerade Lust hast, und jetzt zeig mir dein Bein, nein, gib schon her, jetzt reicht es aber mal, Mensch.
    Während er sprach, hatte er sich hingehockt, mein Schienbein umfasst. Er hatte meinen Rock hochgeschoben, um sich die Wunde anzusehen. Ich wusste, dass sie überhaupt nicht der Rede wert war, aber darum ging es gar nicht, also riss ich mich los. Offenbar ging es auch Benno nicht um Erste Hilfe und Wundversorgung. Er stand auf, den Rocksaum hielt er noch in der Faust, nahm meinen Hinterkopf in die Hand und küsste mich auf den Mund.
    Obwohl ich es hätte erwarten können und vielleicht sogar herausgefordert hatte, traf es mich wie ein Schlag. Zugleich schien die Schwerkraft ausgeschaltet worden zu sein, denn ich musste mich an ihm festhalten, sonst wäre ich über das Maisfeld hinweg in die Dämmerung geschwebt.
    Wenn Benno auch nicht viel vom Fahrradfahren verstand, küssen konnte er.
    Ich rang nach Luft.
    – Was war das?
    – Sag du es mir. Du hast den Doktor geschossen. Ich würde sagen, fällig? Notwendig? Die beste Idee seit Langem?
    Er hielt mich weiterhin an sich gepresst, während er sprach. Er war nicht grob, aber auch nicht besonders zart, eher sachlich, kein Lächeln.
    Doch bevor ich anworten konnte, drang ein Geräusch aus seinem Brustkorb, eine Art Ächzen hinter dem Sternum, und er umfasste mich sehr fest, holte sich mit den Fingern einen Kaugummi aus dem Mund und küsste mich noch mal. Und danach küssten wir uns ziemlich lange. Unziemlich lange. Er roch nach Seife und nach irgendetwas Nahrhaftem, Hafer oder Brot, aber vielleicht war es nur das Maisfeld, das so roch. Und er schmeckte nach Pfefferminz.

    Irgendwann hielten wir inne, um Luft zu schöpfen, und ich versuchte, meiner Verwirrung Herr zu werden, indem ich sofort anfing nachzudenken. Nachdenken half selten gegen Verwirrung, aber es war ein gutes Mittel, um Zeit zu gewinnen, Zeit, in der man versuchen konnte, seiner Verwirrung auf andere Weise Herr zu werden. Ich ließ also von Benno ab und dachte angestrengt nach. Worüber,

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