Vom Schlafen und Verschwinden
hatte, alles im Griff zu haben, aber dies sei der Augenblick gewesen, in dem er sich plötzlich unwahrscheinlich glücklich gefühlt habe und gleichzeitig zutiefst erschrocken sei, weil er nämlich nicht mehr wieder zurückgekonnt hätte, selbst wenn er gewollt hätte. Aber er wollte ohnehin nicht.
– Heute ist Freitag, ich hol dich ab. So gegen zehn?
– Weißt du denn, wie ich heiße und wo ich wohne?
– Ja, stell dir vor, das weiß ich.
– Und wie heißt du überhaupt?
– Adrian.
Da lächelte Orla.
– Stell dir vor, das wusste ich auch schon, Adrian.
– Muss ich mich jetzt dafür bedanken, Orla Feld?
Abends klingelte er und sagte artig Guten Abend, und ich erlaubte ihm, eine Weile mit Orla in ihrem Zimmer zu sprechen, nicht aber, »auf die Brücken zu gehen«. Das machten sie ein paar Nächte später heimlich.
Ich wusste lange nicht, ob sie schon miteinander schliefen. Es ist Unsinn, wenn man irgendwo liest, dass Mütter so etwas spüren. Ich glaube, sie spüren weniger, als sie spionieren. Und Orla weiß Geheimnisse zu hüten. Eine ganze Zeitlang waren sie nur Freunde oder so etwas Ähnliches. Vielleicht so etwas wie Andreas und ich damals.
Nun, das hoffte ich nicht.
Adrian ist schon vor uns nach Hamburg gezogen. Kaum hatte Orla ihm erzählt, dass ich dort eine Stelle annehmen würde, bewarb er sich um einen Studienplatz an der Hochschule für bildende Künste, wurde angenommen und zog weg. Für ihn war es ein Befreiungsschlag, für seine Eltern war es bloß ein Schlag. Als Orla und ich einige Wochen vor dem richtigen Umzug von Grund nach Hamburg reisten, fuhren wir langsam mit dem Zug die Hamburger Bahnhöfe an. Zwischen dem Hauptbahnhof und Dammtor war auf der Betonwand des Kunstmuseums in gelben Lettern eine Lichtinstallation angebracht:
»die eigene GESCHICHTE «
Doch darunter hatte jemand etwas mit blauer Farbe gesprüht, und ich las:
die eigene GESCHICHTE
O rtet
R auchzeichen
L abyrinthe
A eolsharfen
Ich hatte wirklich nur zufällig aus dem linken Fenster geguckt und schaute Orla an. Sie hatte beim Lesen ihre Hände in meinen Arm gekrallt, dann ließ sie plötzlich los, warf sich in ihren Sitz zurück und schrie durch den leeren Zug:
– Hast du gesehen? Hast du das gerade gesehen?
– Ist das von Adrian?
– Er hat gesagt, ich solle beim Einfahren in den Bahnhof die Augen aufmachen.
Orla lachte schallend. Sie leuchtete.
Adrians Eltern waren traurig, aber nicht untröstlich. Sie hofften, er würde zur »Vernunft kommen« und sich seiner »Verantwortung stellen«, sobald der Hof einen Nachfolger benötigte. Da er aber noch keinen brauchte, ließen die Eltern ihren einzigen Sohn gehen, um sich den »Wind um die Nase« wehen zu lassen und sich eine Zeit lang der »brotlosen« Kunst zu widmen. Er malte jetzt mehr mit Kreide und sprühte nicht mehr so oft.
– Zu viel Wind um die Nase. Sobald du auf einer Brücke stehst und anfängst zu sprayen, reißt dir eine Böe die Farbe direkt aus der Dose. Das meiste kriegst du selber ab.
Also ging er unter die Brücken. Dort zeichnete er Wohnungsgrundrisse um schlafende Obdachlose. Neulich sah ich einen an der Alster. Adrian hatte mit Kreide ein Rechteck um den grünen Armee-Schlafsack des Mannes gezogen, einen Bettvorleger mit Fransen davor gemalt und SZ hineingeschrieben. Daneben befand sich ein weiterer Kasten, größer als das Schlafzimmer, es hieß WZ und hatte ein Sideboard, einen großen Teppich mit Fernseher darauf, zwei Sessel, eine Stehlampe, alles aus der Vogelperspektive gezeichnet. Nur der Blumentopf mit der Sonnenblume darin war schräg in die Ecke gemalt. In einem weiteren, sehr kleinen Kasten stand ein WC , und zuletzt gab es noch eine Küche mit vier Herdplatten, einem Tisch mit halb vollen Tellern, zwei Stühlen, einer Spüle und einem Schrank. Im Wohnzimmer stand die Tür nach draußen offen, jeder konnte hereinkommen. Ich hätte die Tür gern zugemacht, aber ich hatte keine Kreide.
Später fragte ich Adrian, ob der Mann sich in die gezeichnete Wohnung gelegt hätte oder ob Adrian die Wohnung um ihn herumgezeichnet hätte, während er schon schlief.
– Beides, sagte Adrian. Erst habe ich sie um den Mann herumgezeichnet, aber jetzt benutzt er sie weiter. Gerade du, Ellen, musst dich doch fragen, warum diese Leute Penner genannt werden. Woran man offenbar am meisten Anstoß nimmt, ist nicht ihr öffentliches Saufen, sondern ihr öffentliches Schlafen. Und noch zu unverschämten Zeiten! Die Kreidewohnungen schaffen
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