Vom Schlafen und Verschwinden
keltisch anmutenden Steinkreis-Spiralen. Die meisten Blumentöpfe standen auf dem Hof von Frau Roth, und dort war Orla nach Einbruch der Dunkelheit hingegangen. Tief in ihre Arbeit versunken, merkte sie nicht, dass Adrian sich neben sie gestellt hatte. Als Orla ihn endlich sah, erschrak sie so sehr, dass sie nicht einmal wegrennen konnte.
Er nahm ihr die Geranien aus der Hand und begann, den Steinguttopf-Kreis so lange umzustellen, bis er ein Fragezeichen gebildet hatte. Orla sah es sich kurz an, wandte sich ab und ließ sich von der Nacht verschlucken.
Als Adrian am nächsten Morgen aus seinem Fenster blickte – es war das mit den riesigen bunten Plastikpilzen auf der äußeren Fensterbank –, sah er, dass die Blumentöpfewieder verstellt worden waren, diesmal in Form eines Ausrufezeichens.
Adrian war der Sohn des Grunder Bauern Hermann Roth. Es gab nicht so viele echte Landwirte in Grund, zwei oder drei, und sie lebten vor allem von den Äckern, die sie nicht mehr besaßen. Bauland war wertvoll in Grund, die Stadt war nah, und mit dem Bau der Straßenbahn war sie noch näher gerückt.
Ich kann nicht an die Straßenbahn denken, ohne mich an meinen Klassenkameraden Daniel zu erinnern, der im Jahr unseres Abiturs in der Silvesternacht auf den Schienen nach Hause ging und unter den Zug kam. Keiner von uns hatte ihn gekannt, er war einer von denen, mit denen man nicht sprach und von denen man nicht merkte, ob sie da waren oder nicht. Ich hatte mich immer für besonders empfindsam gehalten, aber Daniel hatte ich nicht wahrgenommen. Er fiel mir immer erst ein, wenn ich ihn sah. Wahrscheinlich war er mir nicht hübsch und klug genug – so viel zu meiner seelischen Tiefe. Ich schämte mich dafür, dass ich meine vollkommene Gleichgültigkeit erst nach seinem Tod bemerkte, und gestattete mir nicht, sie zu bereuen. Mit Reue versucht man doch nur, sich selbst reinzuwaschen, um dann getrost zu vergessen. Neunzehnjährige, die in der Silvesternacht umkommen, sind entweder volltrunken oder lebensmüde.
Lebensmüde oder sterbensmüde, schläfrig, schlaftrunken, volltrunken – irgendwann fühlt sich alles gleich an. Ist man nur lange genug sterbensmüde, wird man lebensmüde und stirbt.
Orla ist jetzt siebzehn.
Adrian war der Hoferbe, das einzige Kind der Roths. Er konnte schon mit zwölf Jahren Traktor fahren und tat esauch. Aber im Winter, wenn es nichts zu tun gab auf dem Hof, trampelte er sich eine harte Schneefläche im Garten fest, nahm seinen Wasserfarbkasten und einen Pinsel und malte Bilder in den Schnee. Mit rot gefrorener Nase und steifen Füßen saß er neben seiner kalten Leinwand und schaute zu, wie die Farbe langsam im Schnee versickerte. Nach mehreren Stunden war bloß noch eine Ahnung der Farben im Schnee zurückgeblieben, nur zu erkennen, wenn man das Bild vorher gesehen hatte, die Erinnerung des Bildes auf einer leeren Fläche.
An seinem vierzehnten Geburtstag hatte er den Getreidesilo mit einem gigantischen Hai versehen, frontal auf den Betrachter zuschwimmend, mit offenem Maul, und musste ihn noch am selben Tag eigenhändig wieder mit einer scheußlich riechenden Chemikalie abwaschen. Danach hatte er eine ganze Woche Kopfweh. Vom Geld, das er zum Geburtstag bekommen hatte, kaufte er sich neue Farbspraydosen.
Nach dem Ausrufezeichen sei erst einmal eine ganze Zeit lang nichts geschehen, erzählte Orla und schaute nachdenklich durch mich hindurch, ich rührte keinen Muskel meines Gesichts, um sie nicht abzulenken.
Orla und er sahen sich in der Schule, in den Pausen, sie nickten sich gleichgültig zu. Er kam zu ihr rüber, sie waren gleich groß, aber er war zwei Klassen über ihr.
– Du bist das mit den Labyrinthen.
– Du bist das mit den schlauen Sprüchen.
– Und du hast ein Ausrufezeichen aus meinem Fragezeichen gemacht.
– Und du hast ein Fragezeichen aus meinem Steinkreis gemacht.
– Es war kein Steinkreis.
– Ach nein?
– Nein, ich glaube nicht.
– Was war es denn dann?
– Weiß nicht, ein Hexenkreis vielleicht. Keinesfalls jedoch die Blumentöpfe meiner Mutter.
– Keinesfalls.
– Aber warum ein Ausrufezeichen?
– Warum ein Fragezeichen!
– Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, mal mit mir auf die Brücken zu gehen.
– Und ich wollte dir sagen, ja, von mir aus.
– Das wäre eher ein Punkt gewesen als ein Ausrufezeichen.
– Aber ich musste rufen, dein Fenster war so weit weg.
Adrian sah sie an.
Hinterher sagte er zu Orla, dass er bis dahin noch geglaubt
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