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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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gewaschen wurden und daher immer ein wenig fettig waren und dunkler erschienen. Joachim war es auch aufgefallen, er sprach über ihre Haare, über Bartstoppeln am Kinn, über den grünen Belag, über Stuhlgang und Urinbeutel, als wäre es das Wetter, nur über ihren Tod konnte er nicht sprechen. Dann fing er an zu weinen. Er sagte nicht, »wenn sie stirbt«, sondern nur »wenn der Tag X kommt«.
    Für den »Tag X« mussten wir ihr ein Kleid herauslegen. Wir nahmen eines ihrer alten Konzertkleider aus puderrosa Seide, die ihr wieder passten, nachdem sie vier Monate lang nichts gegessen hatte. Aber noch während ich das Kleid aus dem Schrank zog, war ich davon überzeugt, der Tag X würde niemals kommen, sie würde für immer dort liegen und einatmen und ausatmen und wieder einatmen. Ihre Haare würden langsam wieder braun werden, ihr Körper wieder muskulös und ihr Gedächtnis wieder heil. Ja, ich glaubte eigentlich, ihr Gedächtnis sei schon längst wieder heil, während sie dort lag und ihren schweren Schlaf schlief. Und wenn sie ihre steingrauen Augen öffnete, was sie manchmal tat, dann hätte es mich nicht gewundert, wenn sie mich begrüßt hätte mit ihrem Lächeln, das ihre Augen so schmal machte, dass es aussah, als würde sie sie ganz zukneifen.
    Aber Heidrun kam nie wieder zurück aus ihrem Koma, das sich von ihrer Demenz vor allem darin unterschied, dass sie jetzt nicht mehr schluckte, wenn man ihr Nahrung in den Mund schob. Sie gähnte oft und bekam Tränen in die Augen, die trockneten, bevor sie hinunterlaufen konnten.Dünne weiße Linien aus Salz blieben in den Falten um ihre Augen zurück, jenen Falten, in die ihre Augen beim Lächeln zu verschwinden pflegten.
    Frösche schlucken mit den Augen, sie haben keine Muskeln, mit denen sie die Nahrung hinunterdrücken können. Also schließen sie die Augen und schieben von oben nach. Aber wenn sie im Winter in ihre Kältestarre fallen, lassen sie die Augen offen. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht weil es nichts zu schlucken gibt, weil die Muskeln entspannter sind, wenn die Augen offen bleiben, weil die Augen einfach einfrieren, weil es gefährlich ist, wenn die Lider zufrieren, weil sie etwas sehen wollen.
    Meine Kollegen haben immer noch nicht erforscht, wie und ob bei Menschen, die bei Licht oder laufendem Fernseher mit offenen Augen schlafen, das Gesehene im Gehirn gespeichert wird. Schlafwandler reißen ihre Augen weit auf, nicht weil sie irre sind, sondern weil sie so wenig sehen. Mondsucht ist die Suche nach dem Mond, das Gegenteil von lichtscheu.
    Benno ließ seit seinem Besuch bei mir in der Praxis tatsächlich nachts die Flurlampe an und hatte nicht mehr so viele blaue Flecken. Das sagte er mir in jener Nacht, nachdem wir um den See herumgefahren waren und die Frösche gesehen hatten. Wir fuhren nebeneinander auf dem schmalen Weg durch die Maisfelder Richtung Rhein. Sein Dynamo jaulte, aber es kam kein Licht.
    – Ich bin froh, dass du meinen Rat befolgt hast. Meistens hört das Schlafwandeln irgendwann von allein auf. Jetzt brauchst du nur noch eine funktionstüchtige Fahrradlampe, und du wirst nie wieder einen blauen Fleck haben.
    Er stimmte mir zu, ein wenig atemlos, denn wir fuhren schnell und sein Dynamo heulte in immer höheren Tonlagen. Also streckte ich den Fuß nach seinem Vorderrad aus und ließ den Dynamo mit einem kurzen Tritt nach unten zurückschnellen, das hatte ich schon hundertmal bei Orla gemacht, als sie kleiner war, aber offenbar hatte es noch nie jemand bei Benno gemacht, denn er starrte mich an, als hätte ich gerade etwas sehr Großes und Schönes vollbracht. Ich lachte ihn aus.
    – Komm, schüttel deinen Kopf, das hast du jetzt schon mindestens eine Viertelstunde nicht getan. Deine Nackenmuskulatur muss schon steif sein.
    Er schüttelte den Kopf, seufzte tief und sagte, dass er dazu jetzt nichts sagen wolle.
    – Aber seufzen, das willst du schon, ja?
    Ja, seufzen, das müsse er eben, seufzen und den Kopf schütteln, das sei Körpersprache, das müsse ich als Ärztin, und da schüttelte er wieder den Kopf, doch begreifen. Obgleich er selbst so vieles nicht begreifen würde, was mich betreffe, dass es ihn nicht wundere, dass ich auch so manches über mich nicht begriffe, und er müsse jetzt auf der Stelle anhalten und seufzen und den Kopf schütteln, denn wir seien gerade am Eingang eines Maislabyrinths vorbeigefahren, und er habe noch nie ein Maislabyrinth besucht, und es tue ihm sehr leid, aber jetzt müsse er es tun, und

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