Vom Schlafen und Verschwinden
eigentlich sollte ich jetzt sagen, ich ruf dich an, und dann zwei Tage nicht anrufen, aber am dritten schon, aber für diese Spiele habe ich keine Zeit. Stell dir vor, dann müsste ich zwei Tage ohne diese Schlüsselbeine sein.
Er küsste meine Schlüsselbeine und sprach dabei weiter:
– Die Gefahr, übereifrig zu wirken, nehme ich in Kauf. Außerdem bin ich es. Übereifrig. Es fühlt sich jedenfalls so an.
Er zog mich an den Hüften zu sich und streifte mit den Lippen meinen Hals seitlich unter dem Ohr. Er berührtekaum meine Haut, aber meine Knochen wurden zu Quecksilber.
– Übereifrig, ja? Übereifrig ist gut. Oje. Was machst du da, Benno?
– Das, was ich schon seit Wochen machen wollte. Schon in deinem Sprechzimmer. Aber du warst so arrogant. Bist du zu allen deinen Patienten so?
– Nur zu den dreisten.
– Hm. Dreist?
Er zog mein T-Shirt über meine eine Schulter und berührte mit dem Mund die Stelle, an der Arm und Brust ineinander übergehen.
– Ja. Nassforsch.
Ich bekam nur ein Flüstern zustande. Und so küssten wir uns noch einmal in dieser Septembernacht, anders als zuvor, kühner und freier. Und es stimmte, ich hatte auch das Gefühl, ich müsste es erst lernen oder vielmehr als sei das, was ich vorher für küssen gehalten hatte, nicht das, was ich jetzt tat.
Als ich sein Hemd in der Hand hielt und mein Rock schon wieder in einem Ring um meine Füße lag, schüttelte ich ihn ab, sofort wurde mir kalt. Ich fluchte, zog mich an und knurrte, dass ich morgen früh rausmüsse, um mich um Patienten zu kümmern.
– Um nette Patienten, fügte ich hinzu, denn ich hörte selbst, wie halbherzig ich klang:
– Um solche, die weder dreist noch forsch sind. Sie haben es nicht verdient, dass ich übermüdet bin.
– Sind müde Somnologen nicht gut fürs Geschäft?
– Nein, sind sie eben nicht.
– Dann sehen wir uns also morgen, Ellen.
– Ja.
– Und übermorgen.
– Ja. Ja! Komm schon, jetzt mach.
Nach einer Stunde Singen machten wir immer zehn Minuten Zigarettenpause, obwohl keiner von uns rauchte. Ein Chor, in dem nicht ein Drittel der Mitglieder rauchte, wo gab es das? Ach ja, Orla und ihre elenden Rauchzeichen, ich wollte gar nicht daran denken, aber hier vor den Augen ihrer Mutter und ihres Großvaters drehte sie sich keine Zigaretten, nicht einmal Gedichte.
Marthe, Benno und ich saßen draußen auf der Treppe, die seitlich hinauf zum Parkplatz des Rathauses führte. Andreas stand mit dem Rücken zu uns und schaute über die Häuser und Gärten, die unterhalb des Rathauses am Hang lagen. Nur Joachim war drinnen, lüftete den Raum und kramte wahrscheinlich in seinen Noten. Benno erklärte, warum Hugo Schwindt ganz sicher hier in Grund gewesen sein müsse:
– Er schreibt: »In Grund haben wir nur unsere Zelte und Decken. Bisweilen jedoch schlafen wir auch unter freiem Himmel, aber immer mit einem rauchenden Feuer, um die Schnaken fernzuhalten.«
– Und »In Grund« hältst du für eine Ortsbezeichnung?, fragte Marthe skeptisch. Oder hat Hugo nur den Bogen des »m« unterschlagen?
– Eine gute Frage, sagte Benno, denn, ja, er hat genau das an ein paar anderen Stellen auch getan. An zwei anderen, um genau zu sein.
Es war ein warmer Abend. Ich hörte die Grillen im Tiefgestade und in den Obstgärten. Ich mochte Bennos Stimme. Sie war klar und hatte in den Anlauten etwas Heiseres. Marthe stand auf und ging hinein, sie mahnte uns, nicht zu lange auf der kalten Treppe sitzen zu bleiben. Benno lächelte sie an, ohne zu hören, was sie sagte.
– Aber dann, rief er plötzlich aus, und Marthe wandte sich noch einmal kurz auf der Treppe um.
– Dann hätte Hugo doch Grunde schreiben müssen, mit »e«, im Grunde, oder?
– Du meinst in Grunde, sagte ich.
Marthe ging die letzten Stufen hinunter und verschwand im Probenraum.
– Ja, von mir aus.
Benno schob meine kleinlichen Bedenken mit einer großen Bewegung des Arms beiseite.
– Zudem frage ich mich, wo Hugo und seine Männer geschwommen sind. Warum nicht in diesem See hier?
– Ich glaube nicht, dass es den schon am Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben hat, dies ist ein Baggersee, eine Kiesgrube. Bagger. Maschinen mit großen Schaufeln. Zur Kiesgewinnung.
– Ja, schon gut, beruhige dich, Ellen. Aber im Rhein, selbst im begradigten, kann man auch schwimmen. Und erst recht in all den Altrheinarmen.
– Die sind aber flach und voller Schlingpflanzen, dass man darin schwimmen kann, glaube ich nicht. Dann schon eher Gold
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