Vom Schlafen und Verschwinden
Doktorvater war zwar ein wenig enttäuscht – er fand die Briefe an die Mutter hinreißend –, doch er schrieb Benno ein glanzvolles Gutachten.
Warum log er? Warum verschwieg er das, was er wirklich tat? Diese Fragen stellte sich Benno, dachte dabei aber nur an den Gegenstand seiner Forschung und nicht an sich selbst.
Hugo Schwindt schien der einzige verantwortliche Offizier des Stützpunktes am Rhein gewesen zu sein, der zur Unteroffiziersschule in Ettlingen gehörte, und deren Leiter Major von Kretsch war. Allerdings wurde aus den Protokollen ersichtlich, dass von Kretsch nicht in Ettlingen, sondern weit weg, in Berlin, saß.
Der alten Akte entnahm Benno außerdem, dass Schwindt eine Spezialeinheit ausbildete. Mehrere der Unteroffiziersanwärter aus der Ettlinger Schule hatten sich freiwillig zu den Schutztruppen nach »Deutsch-Südwest« gemeldet, und Hugo Schwindt bereitete sie auf das vor, was sie dort erwartete. Die Bedingungen am Oberrhein waren ideal, Hitze, Sümpfe, Urwald, Schnaken, Bremsen und Malaria.
Benno las die genauen Beschreibungen von Schießübungen, erst auf Scheiben, später auf Reiher, die anschließend verzehrt wurden.
Er las über Dienstunterricht, Turnen, Marschieren, Felddienst, Gewehrfechten, was immer das auch war, und über Schwimmen im Rhein. Er las über lange Märsche durch den Auwald bei großer Hitze mit schlechten Stiefeln und nassen Füßen, die im Wald nicht trocknen wollten und stattdessen schimmelten. Er las über das Schlafen im Wald, über Kochen und Feuermachen und über die seltenen Ausflüge indie Stadt, bei denen offenbar so viel getrunken wurde, dass sich Hugo Schwindt an fast nichts mehr erinnern konnte. Jedenfalls ließ er sich niemals darüber aus, sondern notierte nur knapp: »Heute Abend Ausgang mit Bier in Karlsruhe.« Und immer wieder las Benno über Schnaken, Hitze und auch sehr viel über Essen. Offenbar, und das erschien ihm ungewöhnlich, hatten die Männer keinen Koch, sondern mussten sich selbst versorgen.
Benno Hoffmann hatte es seinem Forschungsgegenstand, dem Leutnant Hugo Schwindt aus Kehl, gleichgetan und seinen Traum von einer kolonialhistorischen Arbeit über Afrika zugunsten einer besonderen und ehrenhaften Tätigkeit in der Heimat aufgegeben. In beiden Fällen wurde nicht ganz klar, ob sich die beiden jungen Männer in den oberrheinischen Gefilden nicht einfach wohler fühlten. Wo sich Schwindts Stützpunkt allerdings genau befunden hatte, darüber äußerte sich der Soldat nur unbestimmt.
Doch Benno hatte eine Vermutung. Er glaubte, dass der Ort Grund in Hugo Schwindts Aufzeichnungen erwähnt wurde.
Benno hatte ein Zimmer in einer WG mit einem stillen, dünnen, nahezu unsichtbaren Physiker-Pärchen gemietet und entzifferte, kopierte und editierte die Briefe und Berichte des Hugo Schwindt. Der junge Soldat reihte oftmals nur Stichworte aneinander, hatte keine besonderen orthografischen Fähigkeiten, doch streckenweise schrieb er in einem beseelten, fast schwärmerischen Stil. Daraus ließ sich ein Buch machen. Aber Benno hatte noch längst nicht alles gefunden, was er dafür brauchte.
Ich kramte weiter nach meinem Schlüssel, war er in dieser Tasche? Nein. In der linken? Auch nicht. Warum konnte man Dinge nie im richtigen Augenblick finden? Hier vielleicht? Nein.
Seine Stimme, nicht weit hinter meinem rechten Ohr.
– Ellen?
– Ah, Benno!
– Du warst plötzlich verschwunden!
– Nein, du warst plötzlich verschwunden.
Wir schwiegen. Wir dachten nach.
Schließlich fragten wir gleichzeitig wasmachstdujetzt und willstdunochmitrein. Und während ich die Schultern zuckte, nickte er, und dann schüttelte er den Kopf.
– Nee, willst du noch mit raus? Sag Ja.
– Wohin?
– Es ist noch zu schön für drinnen.
– Na gut.
Und wir gingen von meinem Haus zu Fuß hinüber zum Wald und auf den Deich, und er hielt meine Hand. Er hielt sie auf eine rastlose Weise, fest und immer in Bewegung, als müsse er dringend ihren Aufbau ertasten. Jeden Finger befühlte er einzeln, die Gelenke, die Kuppen, die Mittelhandknochen, die Knöchel, die Längsrillen auf den Nägeln und Linien in den Handflächen. Mitten auf dem Deich zog er mich wieder an sich. Diesmal hatte ich schon die Hände um seinen Nacken gelegt, bevor er mich küsste, und er sagte, dass ich schön sei und dass er es nicht aushalten könne, mich beim Singen zu sehen, und er müsse die ganze Zeit auf meinen Mund starren, und der Anblick allein würde ihn verrückt machen. Und dann
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