Vom Schlafen und Verschwinden
waschen.
– Gold waschen?
– Ja, wusstest du das nicht? Hier haben sie vor der Begradigung Gold gewaschen, das Rheingold.
– Rheingold?
– Nein, nicht das Zeug von Kriemhild. Goldflitter. Es ist hier überall im Sand. Nur kommt der Sand nicht mehr herauf, seit sich der Rhein nicht mehr ständig aus seinem Bett herauswälzt, um sich ein neues zu suchen. Gerade hier im Ort gab es besonders ergiebige Goldgründe.
– Du glaubst, das Gold ist noch da drin?
– Ja, das glaube ich. Eine Zeit lang wollten sie auch im Baggersee welches baggern, aber das lohnte nicht. Doch es ist da drin, selbst wenn es sich nicht lohnt.
– Goldflitter.
Benno schaute geradeaus in die Dämmerung. Sein Ton wurde sachlich:
– So etwas hast du in der Regenbogenhaut deiner Augen, wusstest du das?
Es hat keinen Zweck.
Ich sollte nicht an Benno denken, wenn ich schlafen will. An Andreas besser auch nicht. Also stehe ich auf, gehe ins Badezimmer, lasse den Wasserhahn laufen, damit das Standwasser herausrinnt, fülle den Zahnputzbecher, der eigentlich rot ist, bei diesem Licht aber dunkelgrün aussieht, mit kaltem Wasser und trinke. Es schmeckt nach Zahnpasta. Ich tapse den Flur entlang zur Küche. Die Kacheln unter meinen Füßen sind eisig, außerdem habe ich sofort Krümel an den Fußsohlen kleben und noch etwas Kaltes, Feuchtweiches, womöglich eine alte Nudel oder Erbse.
Meine Mutter hätte sich bei mir geekelt. Ich bin eine berufstätige Frau, alleinerziehend und ohne Haushaltshilfe, da klebt einem schon mal eine Nudel am Fuß. Ich ertappe mich dabei, diesen Gedankengang mit den passenden Gesten und hochgezogenen Augenbrauen zu untermalen. Nun werde ich also doch wunderlich. Ich dachte, mein Zusammenleben mit Orla würde das Schlimmste verhindern. Aber es ist wohl schon zu spät. Zu spät für alles. Auch zum Schlafen. Da kann ich gleich weiter über Benno nachdenken, ich hätte es sowieso getan. Mit einer Flasche Sprudel gehe ich zurück ins Schlafzimmer, wobei ich durch gezieltes Schlurfen versuche, Krümel und etwaige Nudeln am Dielenboden abzustreifen.
12.
Dienstag, 8. Oktober,
Joachim, Benno, Andreas, Orla, Ellen, Marthe.
Come Heavy Sleep, Dynamik, kein Luftholen besonders im Tenor und Alt, Aussprache-Übungen für – th und – s bei »Whose spring of tears doth stop my vital breath«.
Wir atmen zu viel, sagt Joachim. Er dirigiert mit dem Atem. Rasch und tief zieht er die Luft durch Mund und Nase, sein Brustkorb weitet sich, und sobald er innehält, beginnen wir gemeinsam. Bei leisen und versetzten Einsätzen hebt er die Augenbrauen und schaut uns einzeln an. Wir sollen die Töne im Bogen singen, als Phrase, sagt er. Orla wollte wissen, was eine Phrase sei, sie wisse nur, wie man Phrasen dresche, nicht aber singe. Eine Phrase, sagte Joachim, sei gerade so viel Musik, wie in einen Atemzug hineinpasse.
»Aber was ist dann das Problem, Opa?«, rief Orla, und wir anderen lachten. Selbst Joachim verzog das Gesicht zu einem Lächeln, er liebt seine Enkelin. Ich frage mich, wie es ist, wenn es weitergeht mit der Familie, wenn man Zeuge ihres Zerfalls wird und gleichzeitig beobachten kann, wie die nächsten Generationen aufblühen. Ellen ist biologisch betrachtet längst auf dem Rückzug, aber aus mathematischer oder statistischer Sicht ist sie noch nicht einmal in der Nähe der Mitte ihres Lebens. Vielleicht bekommt sie noch mehr Kinder. Kinder, die atmen und wachsen und fortgehen und nie mehr wiederkommen.
Bei Goethe steht, im Atemholen seien zweierlei Gnaden. Einmal, wenn Gott dich presst, und zweitens, wenn er dich wieder entlässt.
Doch welche Gnade gehört zu welchem Atem? Presst er mich zusammen, sodass ich meinen Atem hinausdrücke, und beim Entlassen atme ich wieder ein? Oder ist es umgekehrt? Entlässt er mich, indem ich aufatme und damit aufhören kann, die Luft anzuhalten? Und presst er mich, indem er meine Lungen zum Bersten füllt? Ich verstehe diese Verse nicht.
Und vor allem ist der Atem, wie die meisten großen Dinge, nicht zweierlei, sondern dreierlei. Denn was ist mit jener stillen Zeit zwischen Ausatmen und Luftholen, diesem Umschlagpunkt zwischen Ziehen und Entladen, jenem Moment, in dem das Blut noch nicht nach Sauerstoff verlangt, die Luft jedoch schon aus den Lungen entwichen ist? Diesen einen Moment der Ruhe, der absoluten Gleichgültigkeit, die Pause zwischen Leben und Tod, den hat Goethe unterschlagen.
Kein Mensch stirbt mit vollen Lungen. Selbst bei einem plötzlichen Tod ist immer noch
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