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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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einfahrenden Zug überrollt. Der älteste wanderte nach Neuseeland aus, er arbeitete auf Farmen. Wenn eine Karte von ihm ankam, war er meistens schon wieder auf einer anderen Farm. Irgendwann schrieb er gar nicht mehr. Als Heidrun starb, schickte ihm Joachim eine Anzeige an die letzte Adresse, die wir von ihm hatten. Er schickte eine vorgedruckte Kondolenzkarte zurück, auf der »Sorry for your loss« stand, so als habe er selbst nichts verloren.

    Der zweitälteste Bruder ertrank, als er hinüber zum Festland schwimmen wollte. Alle waren sich darüber einig, dass er verrückt oder betrunken gewesen sein müsse. Seine Leiche wurde schon am nächsten Tag im Watt gefunden. Nur Heidrun sagte, er sei nicht so betrunken und verrückt gewesen, wie alle geglaubt hätten. Er sei vorher schon einmal vom Festland aus auf die Insel geschwommen und habe sich dabei nach den Bojen und Sandbänken gerichtet. Aber er habe eine Frau geliebt, die mit einem anderen Mann weggegangen sei, und da habe er allen Halt verloren und offenbar auch seinen Orientierungssinn.
    Bald danach löste sich alles auf. Der jüngste Bruder hatte mit seiner Fröhlichkeit seit dem Tod der Mutter die ganze Familie zusammengehalten, nun bröckelte sie auseinander. Der drittälteste fiel ein halbes Jahr nach dem Seetod des Bruders tot um, noch bevor der Arzt auf dem Motorrad herbeigefahren war.
    Mag sein, dass er ein Aneurysma hatte, aber wenn ich anfange, über Erbkrankheiten nachzugrübeln, kann ich gleich aufstehen und mich anziehen. Heidrun blieb mit ihrem Vater zurück, gelähmt, schockiert und einsam. Sie fühlte sich wie das Mädchen in dem Märchen »Die sieben Raben«, deren Brüder sich allesamt in Vögel verwandelten und fortflogen. Nur machte sich das Mädchen in der Geschichte auf, sie zu suchen, während sie, Heidrun, erstarrt auf einer Insel saß und sich nicht vom Fleck rührte. Sie fing an, Blockflöte zu spielen. Es war das einzige Instrument, das sie im Haus gefunden hatte. Sie spielte und spielte, irgendwann schenkte ihr jemand eine Altflöte. Der dunklere Ton beruhigte sie. Im Luftstrom der Flöte spürte sie den Fahrtwind und das Flügelschlagen der verwandelten Brüder. Wenn sie spielte, ging sie los, um sie zurückzuholen, genau wie die Schwester im Märchen.
    Mit elf zog sie aufs Festland zu einer unverheiratetenTante, um von dort aus auf eine weiterführende Schule zu gehen. Sie hatte zum ersten Mal Freundinnen und wurde fröhlicher. Im Sommer fuhr sie zurück zu ihrem Vater, aber über Weihnachten blieb sie bei der Tante. Beim ersten Weihnachtsfest auf dem Festland kam ihr Vater dazu, aber schon im Winter darauf war Eisgang auf dem Wattenmeer, die Fähre fuhr nicht, und von da an kam er nicht mehr.
    Die Tante war herzlich und belesen. Sie hieß Gesine und war eine Schwester ihrer Mutter, die Heidrun kaum gekannt hatte, weil sie früh gestorben war, an einer »Frauensache«. Heidrun wusste nicht genau, was eine Frauensache war, sie stellte sich einen Unfall im Haushalt vor, einen Sturz von der Leiter beim Fensterputzen, ausgeschüttetes Frittierfett, einen explodierten Haartrockner, einen Stromschlag infolge eines nicht geerdeten, schlecht isolierten Kühlschrankkabels. Erst später begriff sie, dass sich ihre Mutter nach Heidruns Geburt von dieser späten, fünften Schwangerschaft nicht mehr erholt hatte. Vielleicht wären auch ihre Brüder noch da, wenn die Mutter nicht so früh gegangen wäre. Und ihre Mutter wäre noch da, wenn Heidrun nicht gekommen wäre. Heidrun war froh, der Insel entronnen zu sein.
    Das Gesicht ihrer Tante Gesine vermischte sich ganz mit dem Bild, das sie von ihrer Mutter hatte, obwohl sie auf den Fotos sehen konnte, dass die Ähnlichkeit nicht so frappierend war. Die Tante war rundlicher und heller, hatte aber die gleiche Stimme. Das hatte Heidruns Vater einmal gesagt, und Heidrun, die sich an die Stimme ihrer Mutter nicht erinnern konnte, klammerte sich daran. Zudem hatte sie von ihrer Mutter einen feinen Schal geerbt, den sie oft trug, weil sie glaubte, er röche noch nach ihr, bald aber nicht mehr. Sie fand, der Schal sei so, wie die Stimme ihrer Mutter gewesen sein müsse. Er war aus perlmuttfarbenem Satin und mit einem rauen, warmen Wollstoff unterfüttert.

    Tante Gesine gab Flötenunterricht für kleine Mädchen. Sie hatte Heidrun damals die Altflöte geschickt. Die Stunden machten Tante und Nichte froh, und sie schufen ein Band zwischen diesen beiden in sich gekehrten, schüchternen Menschen. So kam

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