Vom Schlafen und Verschwinden
Zähne, und dass die Frauen ausladende Frachten auf ihren Köpfen trugen. Er schrieb über Durchfall und Malaria, aber nicht viel. Und er schrieb seitenlang über Vögel, die er gesehen hatte, Bienenfresser und Blauwangenspinte, den Kronenkiebitz und den Graulärmvogel, den Rotbauchwürger und den Gelbschnabeltoko, über Stare, die glänzten wie buntes Metall, und andere Vögel, die den ganzen Tag lachten wie alte Weiber, und überhaupt sähen alle Vögel in Afrika so aus, als habe jemand sie sich zusammengeträumt.
Benno und sein Doktorvater waren zunächst begeistert von dieser frischen und unverbrauchten Quelle, aber nach einiger Zeit fing Benno an, sich zu wundern. Leutnant HugoSchwindt schrieb kein Wort über die Truppen, die Kameraden, über Schlachten, Gemetzel, Aufstände, über Militärisches, nichts.
Mag sein, dass er seine Mutter verschonen wollte, die vielleicht ein schwaches Herz und zarte Nerven hatte, aber je mehr Benno las, desto bekannter kamen ihm die Briefe vor. Erst dachte er, er habe einfach schon zu viele solcher Briefe gelesen. Irgendwann klängen sie alle gleich, schließlich seien dies Soldaten und keine Dichter. Aber er wurde immer unruhiger, bis er einmal zum Zeitvertreib zufällig in der Bibliothek, aber im Nachhinein war es vielleicht doch kein Zufall, ein wunderschön illustriertes Tierlexikon über Afrika durchblätterte, das bei den Büchern über die ehemaligen deutschen Kolonien eingeordnet war. Das Lexikon, ein Standardwerk von Ernst Burgstahler, hieß »Die Tierwelt Afrikas« und war 1898 erschienen. Benno kannte es flüchtig, er hatte es schon einige Male in den Händen gehabt, aber immer nur quergelesen. Bestimmte Formulierungen kamen ihm beim erneuten Darüberschauen über Gebühr vertraut vor. Als er jenen Satz las über die »herablassende Eleganz«, mit der die Giraffe durch ihre »langen Wimpern« blickte, da wusste er auf der Stelle, woher er ihn kannte.
Der Leutnant Hugo Schwindt hatte seine Briefe aus einem Buch abgeschrieben.
Das allein war vielleicht noch nichts Schlimmes, er war nun mal Soldat und kein Dichter, aber dennoch fühlte Benno eine gewisse Erregung in sich, so als habe er hier eine heiße Spur gefunden. Warum schleppte der junge Mann ein so dickes Buch mit nach Afrika, wo er dort doch selbst erfahren würde, was in dem Buch stand?
Seinem Doktorvater verschwieg Benno die Sache mit dem Tierbuch. Warum, vermochte er nicht genau zu sagen. Etwas stimmte nicht mit Hugo Schwindt.
Und eines Morgens, kurz vor der Mittagspause im Freiburger Archiv für Militärgeschichte, fand er eine Mappe mit losen Blättern. Die Handschrift erkannte er sofort, es war Hugos. Die Blätter waren in einem sehr schlechten Zustand, sie mussten irgendwann einmal nass geworden sein, das Papier war hart und wellig, die Tinte teils verblichen, teils verlaufen. Die Schrift selbst schien unregelmäßiger als auf den Briefen an die Mutter. Sie waren offenbar nicht am Schreibtisch verfasst worden.
Auf diesen Blättern befanden sich Notizen für weitere Briefe, nein, weniger Briefe als vielmehr ins Unreine geschriebene Berichte. Sie waren offensichtlich an einen Vorgesetzten gerichtet, einen Major von Kretsch aus Berlin. Es waren Protokolle eines Soldaten, der sich für Afrika gemeldet hatte und nie dort angekommen war. Denn, und hier stockte Benno immer noch der Atem, als er mir davon erzählte, dieser eine Soldat war offensichtlich gar nicht nach »Deutsch-Südwest« geschickt, sondern in der Heimat, genau genommen am Oberrhein, stationiert worden.
Den schlecht leserlichen Berichtskonzepten und Ablaufplanskizzen konnte Benno entnehmen, dass Hugo Schwindt hier Soldaten für Afrika ausgebildet hatte. Eine Giraffe, geschweige denn ihre Wimpern, hatte er nicht ein einziges Mal auch nur von Weitem gesehen.
Benno schrieb ein Exposé über eine kritische Quellenauswertung zu dem bislang unbekannten Schutztruppen-Ausbildungslager am Oberrhein und bekam das Stipendium. Es war eine Pionierarbeit, etwas, das Aufsehen erregen würde in der Welt der Kolonialhistoriker.
Benno ließ das merkwürdige Doppelleben des Soldaten Schwindt keine Ruhe. In seinem Stipendienantrag hatte er die Afrika-Berichte an die Mutter nur am Rande erwähnt, aber nicht, dass Hugo sie abgeschrieben hatte. Benno hattelediglich darauf hingewiesen, dass es Belege für Schwindts eigene Verschiffung nach Afrika gebe, er diese aber nicht im Rahmen seiner Arbeit auswerten wolle, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt.
Sein
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