Vom Schlafen und Verschwinden
es, dass Heidrun Altflötistin werden wollte. Es gab schlichtweg nichts, das sie lieber getan hätte.
Sie begann, in Kiel zu studieren, und bald wurde sie gefragt, ob sie Lust hätte, mit drei anderen jungen Frauen ein Blockflötenensemble zu gründen. Das hatte sie.
Joachim betont, sie seien sehr gut gewesen. Ich habe keine Vorstellung von ihrem Spiel. Es gibt keine Tonbandaufnahmen, und eine Schallplatte haben sie auch nicht aufgenommen. Sie spielten ausschließlich Musik aus der Renaissance und dem Frühbarock.
Nach ihrer Hochzeit spielte Heidrun kaum noch.
Joachim arbeitete damals als wissenschaftlicher Assistent an der Universität und schrieb abends seine Habilitation.
– Sie hatte zu viel zu tun, sagte Joachim, und dann kamst ja auch bald du.
Kennengelernt hatten sich meine Eltern, weil Joachims bester Freund der Bruder der Bassflötistin war. Diese hieß Irene und spielte außer der Bassflöte noch das Fagott. Sie sah erstaunlicherweise selbst aus wie ein Fagott, lang, dünn, kurvenlos, etwas hölzern im Auftreten und mit jener gekrümmten Schulterhaltung, die Frauen manchmal einnehmen, wenn sie vertuschen wollen, dass sie groß sind. Orla sagt, die großen Frauen, die aufrecht stünden, sähen zwar wirklich manchmal sehr groß aus. Die Geduckten, egal wie groß sie seien, sähen aber immer zu groß aus.
Sogar die Krümmung im oberen Rückenwirbelbereich der Schwester des Freundes, diese fleischgewordene Bitte um Entschuldigung für das eigene lang gestreckte Dasein,so waren Joachims Worte, spiegelte sich in der S-Krümmung ihres Fagotts wider.
»Irenes Flötendamen«, wie der Bruder sie nannte, hatten Joachim immer eher amüsiert als interessiert. Zu einem Geburtstagsempfang der Mutter des Freundes war auch Joachim eingeladen. Und wie zu erwarten gewesen war, trat das Flötenensemble der Tochter des Hauses auf. Joachim sah und hörte die vier jungen Frauen und war erschüttert. Kaum vermochte er zu fassen, wie gut sie waren, gerade auch die Schwester des Freundes, zu der sich Joachim nach dem Auftritt vorkämpfte und ihr entgegenrief: »O ich fagöttere Sie, Irene!« Ein Bonmot, auf das er fast vierzig Jahre später immer noch stolz ist. Er erntete Applaus und Gelächter und – das war das Wichtigste – einen kurzen Blick der Altflötistin Heidrun Janssen. Denn am tiefsten erschrocken war Joachim darüber, wie liebreizend diese war.
Etwas Scheues war an ihr, doch wenn sie einmal lächelte, erhellte sich ihr Gesicht und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Als Kind hatte sie geschielt und sich angewöhnt, die Augen möglichst klein zu machen, damit man es nicht so sah. Heidrun spielte nicht die Melodie, aber eine raffinierte und anspruchsvolle Begleitung, zurückhaltend, unabhängig und doch stets auf die anderen Stimmen bedacht.
Wie eine Altflöte war sie schlank und hielt sich sehr gerade. Ja, alles an ihr war gerade: ihr Blick, mit dem sie Joachim musterte, als dieser sich von Irene vorstellen ließ, ihre Stimme, mit der sie ihn einlud, zu ihrem nächsten Konzert zu kommen, wenn es ihm gerade so gut gefallen habe. Nun, vielleicht war ein Hauch von Spott darin zu erkennen gewesen, Joachim war sich nicht sicher, und es brachte ihn schier um den Verstand.
Natürlich erschien er beim nächsten Konzert. Es warWinter, und er hatte nur ein Moped, aber er war dort, saß in der letzten Reihe einer ungeheizten Kirche und schaute auf Heidrun. Er hatte extra einen knallroten Schal angezogen, damit sie ihn auch sähe, und tatsächlich sah sie ihn und neigte ein wenig den Kopf, nein, eigentlich neigte sie nur die Augenlider, aber Joachim wusste, dass sie ihn gesehen hatte, und war glücklich. »Come Again« stand auf den Karten, die sie ihm schickte, sobald sie neue Konzertdaten wusste. Nur die zwei Wörter und Zeit und Ort. Und Joachim kam hin, wieder und wieder. »Come again«, Joachim sang das Lied, wenn er gute Laune hatte, also sehr oft, »sweet love doth now invite …«
Das Ensemble gab viele Konzerte, Alte Musik kam gerade in Mode, und diese jungen Frauen mit ihren schwarzen Kleidern und tiefen Augen rührten ihre Zuhörer schon, noch bevor sie auch nur einen Ton gespielt hatten.
Als sie Joachim heiratete, war Heidrun dreiundzwanzig Jahre alt, sie stand kurz vor dem Examen, aber im Musikstudium, sagte Joachim später, sei das Examen ohnehin nicht wichtig. Wenn man schon vorher gebucht werde, brauche man eigentlich kein Diplom. Zum Unterrichten an einer Schule wäre es vielleicht später ganz
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