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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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verschwand. Sie habe geschlafen, hieß es. Geschlafen. Da kennt sie sich ja aus.
    Lutz war kein Engel. Er war ein eigensinniges Kind, aufbrausend und vielleicht auch selbstsüchtig. Die Lehrer mochten ihn nicht, das merkte ich gleich. Ich bin selbst lange genug Lehrerin gewesen. Er war schlau und arrogant, er schwänzte die Schule, er interessierte sich nicht für den Unterricht, aber er schrieb Zweien und Dreien, ohne sich nur ein einziges Mal hinzusetzen, um zu lernen. Er hätte überall auf Eins stehen können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht. Später wurde er richtig schlecht in der Schule, hat Haschisch geraucht, aber ich glaube, nicht übermäßig viel, und er war vorher schon schlecht. Ich war nachsichtig, habe eine Auge zugedrückt und ihm die Trennung zugutegehalten, vielleicht zu lange. Hatte sie ihn wirklich so getroffen? Er war schon sechzehn, unter der Woche wohnte er bei mir, jedes zweite Wochenende bei Ludwig und die gesamten Sommerferien auch. So war das Arrangement. Hier weiß keiner, wer ich bin, nach der Scheidung habe ich meinen Mädchennamen wieder angenommen. Ich zog nach Grund, wo Lutz das letzte Mal lebend gesehen wurde, oder tot, wer weiß das schon.
    Ich habe erst mir die Schuld an seinem Verschwinden gegeben, schließlich war ich es, die die Trennung wollte. Später gab ich Ludwig die Schuld, denn Lutz war in seiner Obhut gewesen, bei mir wäre das nicht passiert. Ich wäre aufgewacht, hätte gehört, wenn er gegangen wäre. Und dann, ja, dann habe ich Lutz die Schuld gegeben, ich muss mir eingestehen, dass er rücksichtslos, fast ein wenig grausam sein konnte, das war aber meine Schuld, ich habe ihm zu viel durchgehen lassen. Niemals hätte ich heiraten dürfen, ich liebte Ludwig gar nicht. Aber ich liebte auch keinen anderen. Also dachte ich, das würde reichen. Doch es fühlte sich von Anfang an falsch an. Ich dachte, das gebe sich mit der Zeit, ich dachte an die arrangierten Ehen, ich dachte, wenn ein Kind kommt, aber nichts gab sich. Und eines Tages hatte ich es siebzehn Jahre lang probiert. Ich stahl mich weg. So wie Lutz sich weggestohlen hat. Das französische Wort für stehlen bedeutet auch fliegen. Er flog davon und nahm mir alles.
    Lutz war im Jahr vor dem Abitur sitzen geblieben. Ich sagte ihm, wenn er noch mal sitzen bleibe, müsse er die Schule verlassen und komme in ein Internat. Bleibst du sitzen, fliegst du raus, so sagte ich es ihm. Eine absurde Drohung. Er blieb nicht sitzen, machte seinen Schulabschluss und wartete auf einen Studienplatz für Psychologie. Wir sagten, er solle in der Zwischenzeit Zivildienst machen, zum Bund gehen, reisen, aber er jobbte nur. Erst bei Burger King, später in einer Bar, zwei Jahre lang. Irgendwann bekam er einen Studienplatz in Frankfurt, er hatte selbst nicht mehr daran geglaubt, und ich weiß nicht, ob er ihn überhaupt noch wollte.
    Lutz war schon zwanzig, als er endlich sein Abitur machte, und zweiundzwanzig, als er verschwand. Er sagte, er wolle sich in Grund ausruhen, bevor er nach Frankfurt ziehe. Er kümmerte sich aber um nichts, nicht um ein Zimmer, nicht um die Anmel dung. Er kaufte sich nur die Fahrkarte nach Karlsruhe. Ich frage mich, ob er je vorhatte, mit dem Studium zu beginnen. Aber was hatte er vor? Was? Hatte er sein Verschwinden geplant?
    Er war in Ellen verliebt. Er muss ihretwegen verschwunden sein. Weshalb sonst? Geschlafen, geschlafen haben wir alle. Das kann jeder sagen. Und jetzt ist sie wieder verliebt.
    Ich spüre, wie lebendig sie ist, die Nähe ihre Tochter, ihr Fleisch und Blut. Es laufen Schauer über die Haut meiner Unterarme, alles in mir sträubt sich.
    Doch Ellen sieht Benno auf eine bedeutsame Weise nicht an und strahlt so stark, dass wir die Vorhänge zuziehen müssen, hier unten im Souterrain, wo die Sonne nicht scheint. Ich kann das nicht sehen. Ich kann es nicht.

Ich sitze noch immer auf meiner Bettkante. Unterirdische Bahnwaggons durchschauern meinen Körper von den Fußsohlen bis in die Wurzeln meiner Augenbrauen. Draußen sind noch mehr Vögel erwacht. Ich werde nicht mehr schlafen. Ich bin inzwischen nicht mehr müde, sondern erschöpft. Erschöpft sein, das heißt viel mehr als ermüdet sein. Wo habe ich das gelesen? Fetzen meines eigenen Schlafbuchs schwirren durch meinen Kopf wie die Stimmen erwachender Singvögel. Ist die Erschöpfung nicht auch eine Schöpfung, nur nicht aus dem Vollen, sondern aus einer Leere heraus? Vielleicht ist die Schlaflosigkeit der dem Menschen

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