Vom Schlafen und Verschwinden
nützlich gewesen, aber daran habe man früher ja nicht gedacht, und Lehrerin, das habe Heidrun nicht werden wollen, oje, oje, das wäre nichts für sie gewesen. Joachim lachte durch die Nase bei der Vorstellung, aber Heidrun lächelte auf ihre stille, freundliche Art, die einen Hauch von Spott in sich barg.
Heidruns Flöte stand in einem schwarzen Koffer auf dem Boden ihres Kleiderschranks. Ich erinnere mich schwach, dass sie sie ab und zu herausholte und spielte, aber sehr oft kann es nicht gewesen sein. Sie spielte nur, wenn sie allein war, denn manchmal fand ich das rote Töpfchen mit Flötenfett im Wohnzimmer oder ein Notenblatt oder den schwarzen Putzstab mit dem Kunstlederlappen daran.
Ich hatte damals nichts dagegen, dass sie fast gar nicht mehr flötete. Ich weiß noch, wie wenig ich es mochte, wenn ihr Gesicht diesen ernsten, fast zornigen Ausdruck annahm. Und noch Minuten nach Verstauen des schwarzen Koffers im Schrank schien sie nicht ganz anwesend zu sein. Schwer zu ertragen war der Anblick ihres Körpers, wenn er sich im Takt der Musik wiegte und bog. Sie wirkte auf eine Weise entfesselt, die mich befremdete und beschämte. Am liebsten hätte ich ihr den korallenroten Frottee-Badeschlauch übergeworfen.
Natürlich spielte sie an Heiligabend die Weihnachtslieder auf der Flöte, aber das taten alle Mütter. Später hörte sie auch damit auf, und irgendwann spielte sie nicht einmal mehr heimlich. Erst als sie es gar nicht mehr konnte, da wollte sie wieder. Ihr vergeblicher Versuch, die Flöte zusammenzusetzen, war ein Anblick, den kein Mensch ertragen konnte. Als sie tot war, sagte Joachim, dass er sich wünschte, er hätte an dem Tag, an dem sie das letzte Mal gespielt habe, besser zugehört. Aber er habe ja nicht gewusst, dass es das letzte Mal sein würde, und jetzt könne er sich nicht einmal daran erinnern, wann es gewesen sei. Ihm brach die Stimme. Er wandte sich unbeholfen ab. Ich legte ihm die Hand auf den Arm und schaute weg. Ich wünschte, ich hätte mir den Tag gemerkt, an dem Heidrun das letzte Mal meinen Namen sagte, wenigstens das Jahr.
Je weniger sie flötete, desto mehr backte sie, und je mehr sie backte, desto mehr rannte sie. Sie backte ihre üppigen, vor lustvoller Fleischlichkeit beinahe aus der Springform platzenden Kuchen und Torten, die selbst lebendige Körper zu sein schienen, pulsierend, warm, feucht und geädert. War der Kuchen fertig, sagte sie, sie müsse jetzt »endgültigraus« aus der Küche, da könnten wir sagen, was wir wollten. Joachim und ich sagten nie etwas und wollten es auch gar nicht, aber sie schaute uns trotzdem drohend an, damit wir ja nichts sagten, zog ihre blauen Sportsachen an, im Sommer eine Shorts, im Winter eine Trainingshose, und ihre Laufschuhe und rannte aus dem Haus und über die Felder in den Wald. Entweder rannte sie nach links bis zum übernächsten Dorf und wieder zurück oder nach rechts in Richtung Stadt, wo einst der Markgraf gejagt und geträumt hatte.
Wenn sie zurückkam, war sie immer gut gelaunt, verschwitzt und ein bisschen schlammig. Sie duschte und kümmerte sich um die Kuchen, die zum Abkühlen wie gestrandete Schildkröten hilflos auf dem Rücken lagen. Meistens bekamen sie eine Schicht Zitronenguss oder wurden aprikotiert, doch zuvor wurden sie wieder auf die Füße gestellt. Ich weiß nicht genau, warum die umgedrehten Kuchen immer ein beklemmendes Gefühl in mir auslösten. Ich hatte den Eindruck, dass Heidrun sie mit Absicht außer Gefecht gesetzt hatte, bevor sie das Haus verließ, so als traute sie ihnen nicht. Sicher ist es seltsam, wenn sich ein Kind vor einem Kuchen fürchtet, aber Heidruns Kuchen schienen vitaler zu sein als wir alle.
Joachim sagte, ihre Krankheit habe an dem Tag begonnen, als sie ihn fragte, ob er ihr beim Kuchenbacken helfen könne. Jahre später, als ihr alles fremd wurde, verlangte sie von uns, wir mögen sie doch endlich nach Hause bringen. Doch das Haus auf der Insel gehörte uns nicht mehr, Heidrun hatte es selbst Jahre zuvor verkauft, als größere Sanierungsarbeiten anstanden. Und selbst wenn wir es noch gehabt hätten, sie hätte es ohnehin nicht mehr erkannt.
Heidrun war immer angespannt gewesen, wenn wir auf die Insel fuhren. Einerseits mochte sie es nicht, wenn sich dort etwas veränderte, jedes neue Gebäude wurde misstrauisch beäugt und verächtlich abgetan. Andererseits stöhnte sie über die Enge des Dorfs und die übermächtige Neugier der Bewohner. Wahrscheinlich lernt man an
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