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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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solchen Orten, Geheimnisse zu hüten. Ich erinnere mich an die Wattfliedersträuße, die wir pflückten. Über den Wiesen lag ein lila Licht, und wenn wir hindurchliefen, war die Luft gesättigt vom starken, würzigen Duft des Strandwermuts, den Heidrun zu Bündeln band und zu Hause in den Kleiderschrank hängte. Angeblich tat sie es wegen der Motten, aber in Wirklichkeit, weil ihr war, als bliese beim Öffnen des Schrankes der Seewind über die Wattwiesen.
    Wenn wir auf der Insel waren, weckte sie mich manchmal nachts, um mir das Meeresleuchten zu zeigen. Es war ein weiter Weg bis zum Strand. Einen ganzen Kilometer liefen wir Hand in Hand durch die Dünen hinunter ans Meer. Es war stockfinster, sie rannte fast, und ich stolperte todmüde hinter ihr her. Sie redete leise auf mich ein und biss sich dazwischen auf die Unterlippe, ein Zeichen dafür, dass sie entweder ungeduldig war oder ein schlechtes Gewissen hatte oder, wie in diesen Nächten, beides.
    Am Strand zogen wir uns aus und liefen ins Meer. Schon auf dem Weg ins Wasser hinterließen unsere Füße eine glitzernde Leuchtspur im Sand. Wenn wir durch das kalte Wasser wateten, es war Ebbe und wenig Seegang, funkelte das Wasser wie Millionen weißer Diamanten. Sobald wir stehen blieben, wurde es wieder dunkel. Je tiefer wir ins Wasser schritten, desto mehr leuchtete es. Es schimmerte aus den tiefen Wasserschichten herauf, und wenn wir uns bewegten, waren unsere Körper aus grünlichem Licht. Über die leuchtenden Bahnen, die wir hinter uns herzogen, sagte Heidrun jedes Mal, dass es Seesternschnuppen seien. Beim Rausgehen perlten uns die Wassertropfen karfunkelnd von der Haut, liefen ab und erloschen.
    Auf dem Rückweg war ich diejenige, die wach war undpausenlos redete, während Heidrun müde wirkte und schwieg. Sie dachte an etwas, aber ich wusste nicht, woran. Sie war eine so zutiefst diskrete Person, dass mir nicht einmal eingefallen wäre, sie danach zu fragen.

13.
    Donnerstag, kein Chor, niemand da.
    Eine Pfeilspitze aus hundert Kanadagänsen flog heute über mich hinweg. Lang, lang bevor ich die Tiere sah, konnte ich sie hören. Wind rauschte in ihren Schwingen, geschwind, windschnittig ihre lang gestreckten Körper. Und bei jedem Flügelschlag das metallische Singen. Das sind keine Schreie. Es ist das Reißgeräusch des Luftstroms über den Federn. Wie bei Dowland, und mir das Herz zerreißt mit Seufzern. Oder waren es Schreie?
    Anders als die Gänse bleiben die meisten Graureiher hier, wenn es kalt wird. Manche fliegen kurz weg, aber nicht weit. Nur wenige verschwinden im Winter ganz, und noch weniger bleiben verschwunden. Sicher ist nichts.
    Als ich die Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, erkundigte sich die Polizei nach Lutz, »aber Reisende soll man nicht aufhalten«, hat der eine Polizist gesagt, und er gebe »offen und unumwunden« zu, dass er nicht glaube, dass Lutz etwas passiert sei. Das war ein Trost und zugleich eine Anmaßung. Doch die Wunden bleiben offen.
    Jeden Tag, jede Stunde wird er vermisst. Von Ludwig bis in seine letzte Stunde. Er war kaum noch bei Bewusstsein, ich musste ihm Morphium geben und die Dosis immer weiter erhöhen. Ob nun der Krebs, die Chemo oder das Morphium ihn am Ende umgebracht haben, weiß ich nicht. Krebs ist ein seltsames Wort für diese Krankheit, aber in seinem Fall hat sie gepasst, er wurde krank vom ständigen Rückwärtslaufenlassen der Gedanken.
    Der Krebs ist auch ein »Teil des ritterlichen Brustharnischs«, so heißt es in den Kreuzworträtseln, die ich löse, wenn ich nicht denken will. Eine Panzerung, das ist meine Art des Krebses. Alles prallt an mir ab. Auch durch die Liebe bin ich nicht mehr zu verletzen. Und schickte mir der Himmel auch Pfeilspitzen aus hundert Wildgänsen, ich fühlte es nicht mehr.
     
    Orla sucht jetzt öfter meine Gesellschaft. Wir singen beide im Alt und stehen nebeneinander. Sie bietet mir Tee aus ihrer silbernen Thermoskanne an, reicht mir Isländisches Moos zum Lutschen und lächelt mir zu. Es gefällt mir, und es behagt mir nicht. Ich nehme nichts an und erwidere wenig.
    Vom Alt aus kann ich Ellen sehen. Ich kann sehen, wie sehr Benno sie beim Singen ansieht, und ich sehe, wie sehr sie ihn nicht ansieht. Lutz war verliebt in sie, er hat es mir nicht selbst gesagt, aber Ludwig hat es mir erzählt. Er sagte, Lutz habe eine »Sommerliebe«, nein, einen »Ferienschwarm« gehabt. Die Polizei hat sie damals kurz befragt, aber sie sagte, sie war zu Hause in der Nacht, als er

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