Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
hässlich, tattrig und unwert abtun, dabei sollten es einige von uns wirklich besser wissen. Nur beim Wein, bei Möbeln und historischen Bauwerken gewinnt man dem Alten etwas Positives ab.
Sissi ist fünfzig, und das bedeutet, sie ist nicht alt. Selbst mit sechzig oder siebzig wird sie nicht alt sein. Sie ist attraktiv, gesund und quicklebendig. Wenn sie nicht gerade auf dem Sofa liegt und heult, strahlt sie ein gewisses Selbstvertrauen aus. Sie sieht anders aus als die Frauen der vorangegangenen Generation. Ihr Auftreten ist ein ganz anderes, ihr Selbstbild, ihr Lebensstil. Als die Generation ihrer Mutter in diesem Alter war, hatten die Frauen andere Erwartungen. Erwartungen, die mit Sissi nichts mehr zu tun haben. Sie ist einfach in eine neue Phase eingetreten, eine Phase, in der die Person, die sie geworden ist, kaum noch zu dem Bild passt, das die Gesellschaft, und unbewusst wohl auch sie selbst, von einer Frau ihres Alters hat. Sissi hat die erste Welle des Feminismus in den Siebzigern nicht erlebt, sie war noch zu jung. Sie hat nicht gesehen, wie Millionen von Frauen aufgebrochen sind, um ein völlig neues Terrain zu erobern. Uralte Vorurteile schlugen ihnen entgegen, während sie unter den schwierigsten Umständen versuchten, ihr Leben neu zu gestalten. Und auch wenn Sissi von all dem damals noch nichts verstehen konnte, so steht sie doch heute vor ganz ähnlichen Problemen. Sissi muss aufbrechen. Es ist Zeit für eine neue Revolution.
»Hör mal, Sissi«, fing ich an, »du bist jetzt fünfzig. Wahrscheinlich hast du noch fast die Hälfte deines Lebens vor dir. Natürlich wirst du älter, das ist aber nichts Neues. Seit deiner Geburt wirst du älter. Dein ganzes Leben ist eine einzige Veränderung, und das wird auch weiter so sein. Aber du bist, wer du bist. Du bist einzigartig, du bist wertvoll, das war doch schon immer so. Du musst die Jahre, die noch vor dir liegen, nutzen und etwas ganz Besonders daraus machen. Sonst schlitterst du einfach langsam ins Vergessen. Das kostet natürlich Mut. Es kostet Kraft, gegen Konventionen anzugehen, und manchmal ist man dabei auch allein.«
Oder? Stimmte das überhaupt? Nicht unbedingt. Sissi war nicht allein. Ich kenne eine Menge Frauen, die, jede auf ihre Art, in den letzten Jahren und Jahrzehnten ihres Lebens einen neuen Weg gegangen sind. Einige haben sich ganz neu erfunden. Die meisten waren glücklicher, zufriedener als je zuvor.
Die ersten Feministinnen brauchten Vorbilder, und die fanden sie auch. Frauen, die ihnen vorausgegangen waren, deren Erfolge sie inspirierten.
»Sissi«, sagte ich, »denk mal an Marianne, an Angela und Sarah. Sie haben sich auch nicht der Verzweiflung hingegeben, nur weil sie älter geworden sind. Was für groÃartige Frauen!« Marianne hatte, nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren, eine Ausbildung gemacht. Mit fünfundfünfzig konnte sie nochmal dastehen und von sich sagen: Jetzt darf ich mich Fotografin nennen. Als Angela sechzig war, hat ihr Mann sie verlassen. Erst war sie sehr zögerlich, doch bald blühte sie auf, reiste durch die ganze Welt und baute sich einen neuen Freundeskreis auf. Und Sarah hatte mit siebenundsechzig einen alten Studienfreund wieder getroffen. Sie hatten sich gleich verliebt und ein neues, ein gemeinsames Leben begonnen.
Sissi erhob sich aus der Seitenlage und putzte sich die Nase. »Und Michi«, sagte sie nachdenklich.
»Und Christiane«, fügte ich hinzu, alles gemeinsame Freundinnen. »Oder denk an Gesine Schwan. Beinahe unsere erste Bundespräsidentin. Hat mit einundsechzig geheiratet. Das war noch nicht alles, Sissi. Eigentlich geht es jetzt erst richtig los.«
Wir redeten noch eine lange Zeit so weiter. Einmal ging ich zum Telefon und rief Dirk an. Er solle sich keine Sorgen machen, erklärte ich, Sissi sei bei mir, sie würde bei mir schlafen und nach dem Frühstück nach Hause kommen. Wir sprachen über die Schwierigkeiten, über das, was uns beschäftigt, wenn wir älter werden. Vor allem aber sprachen wir über die Frauen, die wir kannten oder von denen wir gehört hatten, die diese Schwierigkeiten überwunden hatten. Gegen drei Uhr am Morgen schlossen wir eine Art Pakt: Sissi würde sich aufraffen, auf ihr bisheriges Leben zurückblicken und sich klarmachen, was sie erreicht hatte. Sie würde neue, positive Ideen für die Jahre, die vor ihr liegen, entwickeln. Und sie würde mir
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