Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
weckt. Ich bin neugierig auf den Tag.
Nach einer Stunde habe ich mich eingelaufen. Martin und ich traben einträchtig nebeneinander her. Unser Schritt- und Tempomaß ist ähnlich – eine Grundvoraussetzung für gemeinsames, harmonisches Wandern.
Auf früheren Touren im Gebirge bin ich weit auseinandergezogenen Wandergruppen begegnet, deren Streiterei über die angebliche Rücksichtslosigkeit Einzelner während der Wanderung den gesamten Abend in der Hütte überschattete und ihnen das Vergnügen an der Wanderung nahm. Aus diesem Grund unternehmen meine Frau und ich auch keine mehrtägigen Wanderungen mit schwerem Gepäck. Wir laufen zu unterschiedlich – irgendwann würden wir uns die Trekkingstöcke um die Ohren hauen.
Gelegentliche Stopps, die entstehen, weil einer von uns einen Stein im Schuh hat, den Rucksack oder die Wanderstöcker nachstellen oder mal pinkeln muss, werden ohne Murren akzeptiert. Auch mein ständiges Fotografieren nimmt Martin gelassen hin. So entsteht ein eigener Rhythmus, der unseren Wanderalltag bestimmt. Tatsächlich nehmen die Phasen zu, in denen wir das Gehen nicht wahrnehmen, es wie das Atmen zu einer vegetativen Funktion wird, aber dabei immer einen beherrschenden Einfluss auf unsere Psyche behält.
Ich unterhalte Martin an diesem Vormittag, rede auf ihn ein. Kosmologie, Evolution, Verhaltensforschung und Philosophie, die Themen gehen mir da nicht aus, und gerne schnappe ich mir ein williges Opfer, das sich meines Redeschwalls nicht erwehren kann. Zuhause habe ich da keine Chance, da meine Interessen nicht mit dem gleichen Enthusiasmus geteilt werden. Auch mein Wanderbruder hat mir nicht viel zu entgegnen. Doch es reicht mir, wenn da jemand ist, der ab und zu „aber ja” oder „ach so“ sagt.
Er lässt mich gewähren, bis ihm der Schädel dröhnt, und würgt mich dann ab mit der Bemerkung: „Ende der Vorlesung, Fortsetzung nächste Woche um die gleiche Zeit.“ Und dann ist es auch gut.
Eine rege Diskussion gibt es aber immer über Musik. Wir lieben beide die Klassik und spielen beide Klavier, Martin hervorragend vom Blatt und ich mit Leidenschaft improvisierend. Zudem ist Martin ein begnadeter Musiktheoretiker, der mir viele harmonische Zusammenhänge erklären kann, auch in meinen Kompositionen. Tatsächlich arbeite ich zurzeit an einer CD, und ich will sie unter dem Eindruck meiner Tour durch Deutschland fertigstellen. Musik verbindet uns und begleitet als Gesprächsthema unsere gesamte Tour, obwohl mein sehr emotionales und intuitives Verständnis sich sehr von der analytischen und theoriegeleiteten Hörgewohnheit meines Mitwanderers unterscheidet.
Der Vormittag geht wie im Flug dahin. Wir erreichen Müden an der Aller – Zeit für ein Päuschen. Auf einer Bank, unter einem riesigen Baum am Rande des Parkplatzes eines Supermarktes, lassen wir uns nieder. Martin geht Eis holen, während ich einen kleinen, weißbärtigen Mann mit einem seltsamen Wägelchen beobachte. Er sieht aus dieser Entfernung wie ein Penner aus und kommt zielstrebig näher. Ich stelle mich darauf ein, ihm einen Euro in die Hand zu drücken, um so schnell wie möglich wieder allein zu sein.
Dann steht er vor mir und fragt freundlich, ob ich rücken könne. Ich packe meinen Rucksack neben die Bank, und mit einer Mischung aus Neugier und Widerwillen harre ich der Dinge, die da kommen.
„Dies ist mein Stammplatz. Hier sitze ich fast jeden Tag“, hebt er an.
Sein Wagen ist eine Eigenkonstruktion – grün angemalt, aus Brettern gefertigt, mit Eisenbeschlägen zusammengehalten, vorn und hinten mit rotem bzw. gelbem Schaumstoff gepolstert und mit kleinen Ballonrädern versehen. An den Seiten befinden sich auffällige, gelbe Reflektoren, hinten zwei rote und vorn an einer bizarren Lenksäule zwischen zwei Griffen eine batteriebetriebene, futuristische Fahrradlampe. Eigentlich sind die Lichter falschrum angebracht, denn er schiebt seinen Wagen vor sich her. Es sind nicht die einzigen Utensilien, die offensichtlich keine Funktion haben. Das Ganze sieht eher wie ein Kunstwerk aus.
Das Gefährt hat er so geparkt, dass er die beiden Bierflaschen, die in einer eigens dafür vorgesehenen Halterung stecken, greifen kann. Auf der Ladefläche befinden sich allerlei Plastiktüten, verschiedenes Gemüse und Brot. Aus den Augenwinkeln betrachte ich seinen bis zu den Knien reichenden, verwaschenen, blauen Arbeitsrock, seine ausgelatschten Schnürstiefel, seine faltigen, braunen, sauberen Hände. Kein unangenehmer
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