Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Geruch trifft mich, und sein Blick ist klar und gütig. Er öffnet eine Flasche Bier an der Kante seines Wägelchens und bietet mir den ersten Schluck. Ich lehne ab. Schweigen – Martin kommt zurück.
Nach einer Weile fährt er zu erzählen fort. Erst leise und stockend, dann aber immer flüssiger breitet er sein Leben vor uns aus.
Bald jeden Tag sei er hier, um Lebensmittel abzuholen, die sie nicht mehr verkaufen wollen. Anschließend setze er sich hierher, trinke eine Flasche Bier und betrachte die Menschen. Die meisten kenne er nicht, er wohne erst seit wenigen Jahren in dieser Stadt. Früher sei er zur See gefahren, habe als Koch auf einem Fischtrawler gearbeitet und dann geheiratet. Als seine Tochter geboren wurde, habe er den Job aufgegeben, für „Essen auf Rädern“ gekocht und später in einer Zulieferfabrik für VW, die Lüftungsgitter herstellt, malocht. Das gab mehr Geld. Eigentlich sei da schon sein Rücken kaputt gewesen, aber er habe sich gequält. Dann kamen der Schlaganfall und die Trennung von seiner Frau. In einem Dorf in der Nähe habe er bis dahin gewohnt. Nun sei er nach Müden gezogen, da er die alte Wohnung nicht mehr habe halten können, und lebe von einer viel zu schmalen Rente. Darüber sei er 69 Jahre alt geworden.
Ich hatte ihn auf Mitte 70 geschätzt, aber nach so viel Schicksal darf man auch ein bisschen älter aussehen. Er hat all das nicht klagend vorgetragen. Irgendwie wirkt er weise, wie jemand, der erkannt hat, dass man sein Schicksal tragen muss, wenn man nicht untergehen will. Als wir aufbrechen, sagt er, dass er auch gleich los müsse, um einen Kuchen zu backen. Heute sei ein Freudentag, denn seine Tochter komme ihn besuchen.
Eine weitere Geschichte, die vom Lebenskampf erzählt und die wir schweigend aufgenommen haben. Habe ich möglicherweise etwas von einem Seelsorger an mir? Immerhin war mein Vater Pastor. Anhören will ich mir das auch weiterhin, lieber Gott, aber Trost spenden musst du!
Die nächsten Kilometer werden schwer. Die enorme Belastung von gestern macht sich bemerkbar. Die Rucksäcke drücken, die Schultern sind verspannt, und je länger wir auf dem nun betonierten Feldweg laufen, desto stumpfer werden die Füße. Eine zweite Blase beginnt mich zu nerven. Darüber hinaus hat die Umgebung ihren Reiz verloren – Ackerland, so weit das Auge reicht. Und auch den Weg kann man bis zum Horizont einsehen, was ihn unendlich lang erscheinen lässt. Man hat den Eindruck, man kommt überhaupt nicht voran. Schweigend stapfen wir nebeneinander her, jeder mit sich und seinem Körper beschäftigt. Der Wunsch, sich einfach hinzuschmeißen, wird übermächtig.
Ich muss mich zusammenreißen, auch wenn ich mich nur noch mit stierem Blick voranschleppe. Irgendwie muss es gehen. Ich will die Etappe jetzt schaffen. Quält man sich nicht, dann besteht die Gefahr, dass man immer wieder einen Grund findet, um die geplanten Abschnitte zu verkürzen. Am Ende ist man dann auf Verkehrsmittel angewiesen, um das Ziel in dem festgelegten Zeitraum zu erreichen. Irgendwie geht das gegen die Ehre, also heißt es kämpfen.
Martins Stimmung ist im Keller. Ständig hält er an und versucht penibel, aber vergeblich, seine Wanderstöcker zu justieren. Er hat den Bogen irgendwie nicht raus, und ich muss dann die Feineinstellung vornehmen, obwohl ich der Meinung bin, dass es auf einen Zentimeter nicht ankommt. Irgendwann hab ich die Faxen dicke, wohl auch, weil ich selber viel zu sehr mit mir beschäftigt bin, und kann es mir nicht verkneifen, beim nächsten diesbezüglichen Stopp eine spitze Bemerkung loszulassen:
„Sag mal, Martin, was hast du eigentlich mit deinen Stöckern. Kannst du das nicht mal in den Griff bekommen?“
Das war wohl zu viel, und mein eh schon genervter Wanderbruder explodiert. Er wird richtig laut: „Ich stell’ die Stöcker ein, so lange und so oft ich will, ich kann sonst nicht wandern. Lass mich doch einfach in Ruhe!“
Mir bleibt die Spucke weg, mit so einem Ausbruch habe ich nicht gerechnet.
Betretenes Schweigen. Ich drehe mich um und gehe einfach weiter, Martin hinter mir her. Einige Zeit braucht es, bis sich die Spannung löst, mein Ärger sich legt und Martin sich entschuldigt. Wir reichen uns die Hand und die Sache ist vergessen. Vielleicht hat die jetzt veränderte Landschaft auch zur Beruhigung beigetragen. Die Felder sind überschaubarer geworden, durchwoben von kleinen Wäldchen und unterbrochen von mit blühendem Löwenzahn übersäten Wiesen. Links
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