Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
des Weges eine niedrige Hügelkette und rechts die Oker mit ihren Auen.
In einem lichten Eichenhain in Meinersen machen wir eine letzte Rast und dösen eine halbe Stunde vor uns hin. Wieder unterwegs, beginnt erneut der Kampf gegen unsere ausgelaugten Körper, und wir versuchen uns mit jetzt eher belanglosen Gesprächen bei Laune zu halten. Das Wandern wird grenzwertig. Am Wetter gibt es nichts zu mäkeln: Sonne, milde 18 Grad und kein Wind. Über zwei Stunden zieht sich der Weg nach der letzten Pause dahin, bis wir schließlich in Hillerse nach 30 Kilometern Tagesleistung nicht mehr können. Bis Braunschweig sind es noch 17 Kilometer. Der Schweineritt vom Vortag hat unserer Konstitution gewaltig zugesetzt, unsere Willenskraft ist erlahmt. Vor der örtlichen Sparkasse setzen wir uns auf die von der Sonne erwärmte Mauer, rufen meinen Bruder an und dämmern wie Tiere seiner Ankunft entgegen. Heute ist der Notfall eingetreten, den wir ja als Voraussetzung für die Benutzung von Verkehrsmitteln abgemacht haben.
Wir sind angekommen. Sitzen auf der Terrasse meines Bruders in gepolsterten Stühlen mit hohen Rückenlehnen, die den Kopf stützen, ein kühles Weizenbier in der Hand, in den Tellern vor uns eine dampfende Chili con Carne, und müssen uns keine Sorgen um ein Bett machen. Mein Geist erwacht zu neuem Leben, während meine Beine und Füße ihren Dienst versagen. Zur Toilette gehe ich wie der Bruder des Glöckners von Notre Dame.
Der Abend wird lustig. Mein Bruder zögert die Einladung zu einem Geburtstag hinaus und kredenzt uns und sich in immer schnelleren Umschlagsraten weiter Biere und Schnäpse. Der Alkohol zeigt seine Wirkung, und ich löse mich von meinem geschundenen Körper, bereit zum Absturz. Schließlich kann sich mein Bruderherz dem Drängen meiner Schwägerin zum Aufbruch nicht mehr widersetzen und beschützt mich somit davor, morgen einen völlig verkaterten Tag zu durchleiden und dem Wahnsinn in die Augen zu schauen. Ich muss mich aber nochmals aufraffen und meine alten Eltern, die zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt wohnen, besuchen. Das habe ich versprochen, und so schwinge ich mich – immer noch in Wandermontur – auf ein Fahrrad und radle etwas unsicher hinüber.
Während unseres Gespräches fragt mich mein Vater immer wieder nach Orten, die auf meiner Wanderroute liegen. Als junger Soldat ist er am Ende des Zweiten Weltkrieges von Wien bis in sein Heimatdorf nahe Hamburg zu Fuß gelaufen, und nun stellen wir fest, dass gerade in der Fränkischen Schweiz ein Teil der Strecke auch von ihm vor 63 Jahren begangen worden ist. Zum Abschied schließt er mich fest in seine Arme und sagt: „Gott segne deinen Weg!“
Mit Tränen in den Augen bleibt er an der Haustür stehen und winkt mir nach. Ich bin gerührt, nehme seinen Segen gerne an und dieses letzte Bild meines alten Vaters mit auf die Reise.
Als ich das Fahrrad auf den Hof meines Bruders schiebe, erfüllt Klaviermusik die Nacht. Martin spielt. Ich lehne mich an die Hauswand und lausche den sanften Tönen, empfinde eine unglaubliche Befriedigung all meiner Sehnsüchte in diesem Moment. Es ist, als wenn die Nacht, der milde Wind, die Musik und meine zufriedene Seele eins sind und mein Inneres und den gesamten Raum um mich herum ausfüllen.
Ich betrete das Haus und setze mich zu Martin ans Klavier. Dann singen wir Lieder aus der Mundorgel: Abendstille, In einem kühlen Grunde, Ännchen von Tharau. Lange habe ich so nicht mehr gesungen. Ich kenne die Lieder von früher und untermale Martins wundervollen Tenor mit meinem leidlichen Bariton, an manchen Stellen gelingt mir sogar die Andeutung einer zweiten Stimme. Ein letztes, freundschaftliches Bier am Küchentisch besiegelt den wunderschönen Abend. Nun liege ich im Bett, erfüllt von den Erlebnissen, voller Erwartung und Abenteuerlust; bin gespannt, ob die Strapazen irgendwann weniger werden. Die Grenze jedenfalls habe ich überschritten.
D IE E RSCHEINUNG UND DAS
W ISPERN DER W ÄLDER
SONNTAG, 4. MAI
BRAUNSCHWEIG – SCHLADEN (NÖRDL. VORHARZGEBIET), 29 KM
Mit guter Laune gehen wir den Tag an. Sonne, blauer Himmel, über 20 Grad – man kann sich daran gewöhnen. Wir beschließen, nicht durch Braunschweig zu latschen, um unsere Füße zu schonen. Jetzt acht Kilometer Beton und Asphalt, und ich bin reif für eine Rehaklinik. Mein Bruder kutschiert uns durch die Stadt, und wir starten am Südrand von Braunschweig. Die Tagesetappe wird uns heute unter anderem durch circa 16 Kilometer
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