Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Laubwald führen – ich freu’ mich drauf.
Nach kurzer Zeit liegt die Stadt hinter uns. Wir laufen entlang eines Sees, und schon bald schluckt uns der Wald. Nur hier hat man das Gefühl, weit weg von der Zivilisation zu sein. Es ist eine andere Welt, sie ist still und zurückgezogen, und wenn man länger in ihr verweilt, vergisst man, dass es da draußen ganz anders zugeht.
Mir kommt eine Pilgerin in den Sinn, eine 50-jährige Frau, die ich 15 Monate zuvor bei einem Vortrag erlebt habe. Eigentlich gab sie den Ausschlag für die Realisierung dieser Wanderung. Sie erzählte damals von ihrer über 3.000 Kilometer langen Pilgerreise auf dem Jakobsweg von Lüneburg bis hinter Santiago de Compostela an den Atlantik. Knapp fünf Monate hat sie dafür gebraucht – allein und ohne großartige Vorbereitung. Der Enthusiasmus und die Lebendigkeit ihres Vortrags, die Innigkeit, mit der sie erzählte, und natürlich die Leistung haben mich schwer beeindruckt. Bitter ist es, dass diese großartige Frau ein Jahr später elendig an Lungenkrebs zugrunde gegangen ist. Meine Güte, wie zerbrechlich das Leben ist! Und es zeigt auch, dass man gewisse Dinge beizeiten tun muss. Der Gedanke ließ mich nicht mehr los, ich brauchte nur noch einen Partner.
Drei Monate nach dem Vortrag, im April 2007, saßen Martin und ich mit unseren Frauen im Biergarten zusammen und haben das sonnige und warme Wochenende mit ein paar Bieren eingeläutet. Hier habe ich dann meine Vision nach dem dritten oder vierten Bier vollmundig zum Besten gegeben und eigentlich nicht damit gerechnet, dass an diesem Abend das Projekt seinen Anfang nehmen würde. Doch Martin war Feuer und Flamme. So kam ich zu meinem Wanderbruder, und wir legten den 30. April des folgenden Jahres als Abmarschtermin fest.
Nach zwei Stunden erreichen wir Wolfenbüttel, ein zauberhaftes Fachwerkstädtchen in Sichtweite des Harzes, Sitz eines evangelischen Bischofs und Standort einer Fachhochschule, an der schon meine Mutter während der Evakuierung aus dem Saarland zum Ende des Zweiten Weltkrieges Pädagogik studierte. Zeit für einen doppelten Cappuccino und einen Tiramisu-Kuchen auf dem Marktplatz. Es ist Sonntag, dennoch ist der Platz voller Leben. Die Menschen sitzen vor den Restaurants, Eisdielen und Cafés und genießen wie wir den herrlichen Maitag. Weit und breit sind wir die einzigen Rucksackwanderer. Biker gibt es zuhauf. Das sollte auch bis zum Ende unserer Tour so bleiben.
Unsere Pause währt nicht lange. Unter den neugierigen Blicken der Menschen um uns herum schultern wir unsere Rucksäcke und wandern aus der Stadt heraus. Schon nach wenigen Kilometern erreichen wir den Oderwald, der sich über elf Kilometer in die Länge zieht.
„He, ihr, kennt ihr den E5?“, ertönt plötzlich aus einiger Entfernung eine männliche Stimme.
Verdutzt drehe ich mich um. Dort hinten steht jemand. Ich trete näher und antworte erstaunt: „Ja!“
„Seid ihr den schon mal gegangen?“
Ohne die Antwort abzuwarten, fährt er fort: „Ich bin ihn in zehn Tagen gelaufen – von Sonthofen nach Bozen. War ’ne Mörderstrecke.“
Nun sehe ich an einem Baum das Schild mit dem E5-Logo. „Aha, interessant“, denke ich und entgegne: „Bin den E5 vor sechs Jahren von Oberstdorf nach Bozen in neun Tagen gelaufen.“
„Sonthofen ist aber sechzig Kilometer weiter“, schallt es sofort zurück.
„Nö, nö, so viel ist das lange nicht“, bemerkt Martin.
„Hab’ die schwierige Strecke über die Braunschweiger Hütte genommen“, geht es weiter.
Mich packt der Ärger angesichts des selbstgefälligen Gedröhnes und setze einen drauf (über die Braunschweiger Hütte bin ich übrigens auch gelaufen): „Ich bin noch weitergelaufen. Den E5 bis zum Ende – nach Verona.“
Der Frau neben unserem Gegenüber – eigentlich nehme ich sie jetzt erst wahr, wie jemanden, der plötzlich aus dem Schatten getreten ist –entfährt ein schiefes Lachen, das wie das Meckern eine Ziege klingt. Dabei rutscht ihr die Zahnprothese auf die Unterlippe. Nur das blitzartige Zuklappen des Mundes, verbunden mit einem saugenden Geräusch, verhindert Schlimmeres und beendet ihren Auftritt.
Ihr Begleiter aber gibt nicht auf: „Ja, ja, der Weg führt dann zum Gardasee weiter.“
„Nein, er führt mindestens 20 Kilometer an ihm vorbei. Den bekommt man gar nicht zu Gesicht,“ antworte ich matt und kann eine aufkommende Lachattacke angesichts der skurrilen Reaktion der Frau kaum unterdrücken.
Doch mir reicht es jetzt,
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