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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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zu einem Damenspaziergang durch den Garten verführen. Herr Burton hielt sie geraume Zeit für ein Gänschen, nicht so groß und fett und vor allem nicht so unangenehm laut wie seine eigene Schnattergans, aber doch von derselben Spezies.
    Wie man sich irren kann! Das vermeintliche Gänschen hatte sich als eine ganz andere Art von Geflügel erwiesen. Nämlich, das war die Wahrheit, als wirklicher Engel. Im Ernst: Klara hatte ihn gefangen und gehalten, als er das Gefühl gehabt hatte, ins Bodenlose zu fallen. Ohne sie hätte er die schlimmen Jahre, die hinter ihm lagen, wahrscheinlich nicht überstanden.
    Wenn er
sie
nicht gehabt hätte. Und dabei hatte ihm Emma ihre neue Freundin regelrecht einreden müssen. Nämlich als Sekretärin, als die sie ihre Qualitäten zuallererst unter Beweis stellte. Er hätte ja, ehrlich gestanden, lieber einen Sekretär gehabt. Aber schon, um Emma wieder einmal zum Schweigen zu bringen, hatte er schließlich nachgegeben.
    Stimmt schon, sie machte ihre Sache nicht schlecht. Obwohl ihre Orthographie keineswegs so perfekt war, wie er sie glauben ließ. Immerhin konnte ein Mann wie er mit ihr reden. Sie sah ihn dann nicht an wie seine Frau, nämlich als ob er in lauter Fremdwörtern zu ihr spräche, und versuchte nicht sofort auf ein anderes Thema zu kommen.
    Wissen Sie, Klara, meine Frau und ich, wir passen eigentlich nicht zusammen. Das war nicht von Anfang an so, aber im Lauf der Jahre hat es sich herausgestellt. Was sie im Kopf hat, nichts als Putz, Gesellschaft, Vergnügen, das interessiert mich nicht. Und was
ich
im Kopf habe, davon hat sie eigentlich keine Ahnung. Natürlich, wir haben uns lang genug nach der Decke strekken müssen. Und können uns jetzt, letztendlich, ein bißchen was leisten. Aber das Materielle ist doch nicht alles. Es gibt doch auch geistige Werte, Sie verstehen, was ich meine.
    Ja, sie verstand, was er meinte. Das war erstaunlich. Oder sie hörte zumindest zu, wenn er sprach. Wenn ihm danach war, Lebensweisheiten von sich zu geben, schrieb sie sogar unaufgefordert mit. Wäre sie ein Mann gewesen, so wäre sie vielleicht sein Eckermann geworden.
    Als Frau nahm er sie allerdings erst recht spät zur Kenntnis. Vielleicht lag das daran, daß er an und von seiner eigenen damals so übergenug hatte. An Emmas voluminöser Weiblichkeit konnte man sozusagen nicht vorbeisehen. Aber Klärchen, mit ihren hochgeschlossenen Kleidern und ihren zu einem sittsamen Kranz aufgesteckten Haaren, hatte etwas bis zur Selbstverleugnung Unaufdringliches.
    Umso größer die Überraschung, als sie ihr Haar zum ersten Mal für ihn öffnete. Wie lang und dunkel und seidig glänzend es war! Jetzt gab es in diesem Haar schon silberne Strähnen. Nicht allzu viele, aber sie glitzerten in der durchs Vorhangmuster gefilterten Sonne.
    Was tun Sie? hatte er gesagt.
    Ist es Ihnen nicht recht, hatte sie gefragt, soll ich mein Haar wieder aufstecken?
    Nein! Warum denn? Ich bitte Sie! Bitte lassen Sie es so!
    Mit diesen Worten war er hinter sie ans Fenster getreten.
    Und hatte begonnen, ihr Haar zu Indianerzöpfen zu flechten.
    Irgendwo unten im Garten war Emma gelustwandelt. Sie hatten sie zwar nicht gesehen, aber sie hätte jederzeit in ihrem Blickfeld auftauchen können. Ob das den Reiz der Intimität noch erhöhte? – Tun wir was Falsches? Nein, wir tun das einzig Richtige!
    Dieses Zöpfeflechten blieb lange Zeit ihr liebstes Vorspiel. Warum war es abgekommen? Das stimmte ihn traurig! Und warum war überhaupt fast jede körperliche Berührung zwischen ihnen abgekommen? Aber von einem gewissen Alter an wirken gewisse Leidenschaften leider lächerlich.
    Jetzt jedoch, da sie noch schlief – die Versuchung war groß. Vorsichtig machte er sich an drei auf ihrem Polster liegenden Haarsträhnen zu schaffen. Er kam nicht sehr weit. Wie spät ist es, fragte sie, Schätzle? Gottlob noch sehr schläfrig. Da konnte er seine frivolen Finger, von ihr unbemerkt, zurückziehen.
    Dann, nach dem Frühstück, bei dem er eine gewisse Unruhe nicht ganz hatte verbergen können, stieg der Herr Burton zum zweiten Mal ins Zwischendeck hinunter. Die Folge von Treppen, die er seinen alten Beinen dabei zumutete, schien ihm heute merkwürdigerweise länger als gestern. Länger und finsterer. Kaum konnte er die einzelnen Stufen unterscheiden. Aber das mochte am Kontrast zwischen außen und innen liegen.
    Es war zehn Uhr vormittag, die Sonne stand um diese Stunde schon hoch über dem Atlantik. Unter der Sonne saß Klara im

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