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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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ihrem Mann dazu aufgefordert und mit einem um Verständnis oder Nachsicht bittenden Blick, den ich vorerst nicht recht deuten konnte, hat mir Frau Klara einen dieser Briefe übergeben.
    Lesen Sie, sagte May. Kafka hatte sich im ersten Augenblick gefragt, ob es sich nicht um einen Scherz handelte. Kurz hatte er überlegt, ob er lachen sollte. Ob er vielleicht sogar lachen
mußte
, um zu zeigen, daß er irgendeine Pointe verstanden hatte. Aber da er nicht ganz sicher war, ob es nicht doch am Niersteiner lag, ließ er es lieber bleiben.
    Aber Entschuldigung, das
kann
ich nicht lesen!
    Das sei, sagte May, allerdings oft so bei durch automatisches Schreiben hervorgebrachten Schriften. Wenn man so eine durch automatisches Schreiben hervorgebrachte Schrift noch nie gesehen habe, könne man sie in den seltensten Fällen auf Anhieb entziffern. Doch mit der Zeit bekomme man einen Blick dafür.
    Mit diesen Worten nahm er Kafka das Blatt aus der Hand und schickte sich an, selbst zu lesen. Was ihm indessen ebensowenig gelang. Wenn auch möglicherweise aus anderen Gründen. Sie müssen nämlich wissen, sagte Frau Klara, die früher geradezu sagenhafte Sehkraft meines Mannes hat durch die Widernisse der letzten Jahre ziemlich gelitten.
    Ach was, sagte May, das sei nicht der Rede wert. Drüben, wo der Horizont eindeutig weiter sei als in Radebeul & Umgebung, werde nicht nur sein Auge bald wieder das alte werden. Die Luft im Wilden Westen, so bleihaltig sie in der Vergangenheit auch gewesen sei, habe ihm immer gut getan. Westlich von St. Louis werde er erfahrungsgemäß ein ganz anderer.
    Jedenfalls hatte am Ende Frau Klara gelesen. Aber
was
sie gelesen hatte, daraus konnte Kafka beim besten Willen nicht schlau werden. Dies etwa: An Old Shatterhand. Kommst Du zum Mount Winnetou?
Ich
komme ganz gewiß. Vielleicht kommt auch Avaht-Niah, der Hundertjährige. Oder das: Komm an den Mount Winnetou zum letzten großen Kampf. Und gib mir endlich Deinen Skalp, den Du mir schon zwei Menschenalter lang schuldest. Oder das: Hast Du Mut, so komm herüber zum Mount Winnetou! Meine einzige Kugel, die ich noch habe, sehnt sich nach Dir!
    Natürlich, erläuterte May, hätten sie diese Botschaften im Original auf englisch empfangen. Allerdings in jenem auch für den des Englischen mächtigen Europäer nur schwer verständlichen Jargon, der drüben an der Indianergrenze gesprochen werde. Seine Frau, die seit Jahren mit seiner Korrespondenz, auch der sozusagen konventionellen, betraut sei, sei darin jedoch nicht ungeübt. So habe sie gleich übersetzt – aber Herr Franz, Sie können doch jetzt, wo es spannend wird, nicht einfach einschlafen!
    Kafka schrak auf. O Entschuldigung, sagte er, Verzeihung! Wie die Herrschaften gewiß schon bemerkt hätten, sei seine Konstitution nicht die robusteste. Doch würden sie seine vorübergehende Ermattung hoffentlich nicht mißdeuten. Er wäre untröstlich.
Wovon
sei gerade die Rede gewesen?
    Von den Botschaften, sagte May, die ihm und seiner Frau im Zuge diverser Séancen übermittelt worden seien. Unter anderem Botschaften von Wagare-Tey, Häuptling der Shoshonen, To-Kei-Chun, Häuptling der Racurroh-Comanchen, und Tangua, Häuptling der Kiowa. Sie hätten noch andere auf Lager gehabt, vor allem eine von Tatellah-Satah, dem Bewahrer der großen Medizin. Aber bitte, wenn der Herr Franz daran kein Interesse habe …
    Aber natürlich, beeilte sich der Herr Franz zu beteuern, habe er daran Interesse! Und ob er daran Interesse habe und wie! Faszinierend! Was es nicht alles gebe! Er wollte, er hätte an einer dieser Sitzungen teilnehmen können.
    Letzteres hätte er – kaum war der Satz seinem Mund entwischt, war ihm das klar – besser nicht gesagt. Aber im nachhinein ist man immer gescheiter. Lieber Max, sag, wie stellt man es an, in Gesellschaft die richtigen Worte zu finden? Was mich betrifft, so finde ich mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit immer die falschen.

5
    Mein lieber Max,
    ich weiß gar nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Es wird vielleicht ein langer Brief werden, ein Brief in mehreren Fortsetzungen, denn bis ich ihn aufgeben kann, bleiben mir noch mehrere Tage und Nächte Zeit. Es sei denn, ich rolle ihn zusammen, stecke ihn in eine Flasche und überlasse ihn dem Meer. Aber ich glaube kaum, daß Du diese Zeilen dann früher bekommst, als wenn ich sie ordnungsgemäß couvertiert in einen New Yorker Briefkasten werfe.
    Das ist kein Scherz, lieber Max, wenn Du die Briefmarken und den

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