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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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ein, liebster Max, Dich um etwas zu bitten. Mein Vater soll von meinem Verbleib vorläufig gar nichts erfahren, aber meiner Mutter und meiner Schwester Ottla könntest Du andeuten, daß es mir, den Verhältnissen entsprechend, gut geht. Du wirst das schon irgendwie schaffen – meiner Frau Mama könntest Du an meiner Stelle die Hand küssen. Und Ottla darfst Du für mich ein bißchen streicheln.
    Mein lieber Max,
    nicht nur May und seine Frau sind hinter mir her, sondern auch zwei Herren namens Robinson und Delamarche. Sie haben es auf meinen guten Anzug abgesehen, den sie (nicht ohne mich freundlicherweise am Erlös zu beteiligen) zu Geld machen wollen – wenn Du das liest, kannst Du Dir vorstellen, in welchem Milieu ich mich hier befinde. Eine Überfahrt zweiter oder gar erster Klasse hätte ich mir mit dem Budget, das mir zur Verfügung gestanden ist, nicht leisten können, außerdem habe ich, wie Du weißt, durchaus etwas übrig für die Erniedrigten und Beleidigten. Daß es mir aber bei den immer wiederkehrenden Avancen dieser Textilspekulanten sowie anderen klassenspezifischen Unannehmlichkeiten, über die zu lesen ich Dir erspare, nicht ganz unlieb ist, wenn mich May, wie heute neuerlich geschehen, aus dem Zwischendeck nach oben holt – nicht unlieb bei aller Ambivalenz dem gegenüber, was mich in seiner und seiner Gattin Gesellschaft erwartet –, kannst Du mir vielleicht auch nachfühlen.
    Heute habe ich übrigens mit
seiner
Gesellschaft vorliebnehmen müssen. Er hat mich zum Abendessen eingeladen, das seine Frau um ihrer schlanken Linie willen ausfallen läßt. Diese Mitteilung habe ich nicht nur komisch gefunden. Ich war verstimmt, habe mich überrumpelt gefühlt – warum hat er mir das erst bei Tisch erzählt?
    Das war im First-Class-Restaurant, in das ich, nebenbei bemerkt, bei dem Status, den ich hier habe, ohne seine Begleitung sicher keinen Fuß setzen dürfte. Aber Du weißt ja, wie wenig Wert ich auf so etwas lege. Trotz meines Widerwillens hat er das Gespräch auf Literatur gebracht. Er wollte unbedingt wissen, was ich gern lese.
    Nun, ich war wortkarg, außer Flaubert habe ich keinen Namen genannt. So ist es darauf hinausgelaufen, daß er mir erzählt hat, was
er
gern liest. Lessing zum Beispiel. So etwas wie den Nathan, hat er gesagt, würde er gern einmal fertigbringen. Schiller, die Bibel und Nietzsche. Letzteren allerdings mit schaudernden Vorbehalten. Mit Nietzsche scheint er sich viel beschäftigt zu haben. Das mit dem Übermenschen, sagt er, ist ein Mißverständnis, es ginge vielmehr um den Edelmenschen. Der sei edel, hilfreich und gut und nichts weniger als zynisch. Daß Nietzsche zuletzt in Turin ein Pferd geküßt haben soll, hat ihn allerdings bis zu einem gewissen Grad mit ihm versöhnt.
    Mit diesem Pferd ist ihm dann der Gedankensprung zum eigenen Werk geglückt. Daß er eigentlich ganz etwas anderes schreiben will, hat er mir erzählt, als früher. Daß er damit allerdings das früher Geschriebene nicht verleugnen möchte. Sozusagen symbolisch müsse man seine Wildwest- und Wildostgeschichten verstehen, aber, bei aller alten und etwas wehmütigen Liebe, die ihn damit verbinde, doch nur als Vorarbeiten, Etüden, Skizzen. Ob ich mir vorstellen könne, hat er mich gefragt, daß es Menschen gibt, die so unerfahren sind, daß sie solche Skizzen schon für die vollendeten Werke halten? Nun, unter seinen Kritikern seien einige. Er besitze ja keineswegs die Anmaßung, zu glauben, sein eigentliches Werk schon geschaffen zu haben. Er habe gerade erst damit begonnen, sozusagen zu ihm aufzusteigen, aber sehe es immerhin vor sich wie einen sehr hohen Gipfel.
    Und dann hat er wieder vom Mount Winnetou zu fabulieren angefangen, nach dem er jetzt angeblich unterwegs ist. Davon war schon gestern die Rede, aber da ich darüber eingeschlafen bin, wurde ich auch jetzt nicht sehr klug aus seinen diesbezüglichen Ausführungen.
Meint
er das, was er sagt? Und
glaubt
er das, was er meint? – Ich wollte, lieber Max, Du wärst hier und könntest mir für den Umgang mit ihm Deinen Rat geben.
    Lieber Max,
    würdest Du zu einer spiritistischen Sitzung gehen, zu der man Dich eingeladen hat? Die Geschichte ist die: May legt sonderbaren Wert darauf, mir das mediale Talent seiner Frau zu demonstrieren. Was er damit beweisen will, durchschaue ich nicht ganz. Aber es scheint mit der Existenz der Figuren zusammenzuhängen, die in seinen Büchern vorkommen, ob diese Existenz nun eine reale ist oder eine irgendwie

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