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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
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Poststempel ansiehst (beides, wie ich hoffe, erkennbar amerikanisch), wirst Du mir vielleicht glauben. Von Spitzberg im Böhmerwald bin ich in diesem Moment jedenfalls ungefähr so weit entfernt wie von der Insel Spitzbergen. Ich kann Dir also nicht schreiben, daß ich zum Beispiel unter einem Verandadach sitze, während es draußen zu regnen beginnt, und daß ich die Füße schütze, indem ich sie vom kalten Ziegelboden auf eine Tischleiste setze, während meine Hand die Feder führt. Vielmehr liege ich auf dem Stockbett im Zwischendeck eines Ozeandampfers, stütze mich auf den Ellbogen und schreibe Dir, so gut es in dieser Umgebung und Lage geht.
    Es ist nicht leicht, Worte zu finden für das, was mir in den letzten anderthalb Wochen passiert ist. Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt
ich
bin, der da, ohne so ganz zu begreifen, wie ihm geschieht, über den Atlantik fährt. Sollte also einer, der mir zum Verwechseln ähnlich sieht, in Prag sein, morgens in die Versicherung gehen, Dich mittags bei der Mariensäule treffen, nachmittags mit Dir im Café Arco hocken und nachts im Trocadero oder im Eldorado stranden, so vergiß diesen Brief und seinen dubiosen Verfasser. Sollte ich Dich aber wirklich sitzengelassen haben, während ich selbst in Bewegung geraten bin, und zwar eine gar nicht unerhebliche (immerhin von einem Kontinent zum andern), so sei nicht gekränkt, sondern versuch zu verstehen, wie Du mich immer zu verstehen versucht hast.
    Du weißt doch, wie schwer ich mich zu etwas entschließe! Vielleicht
kann
sich jemand wie ich überhaupt nur so zu etwas entschließen: indem er den inneren Widerstand gegen jede Veränderung, die heillose Angst davor, wenigstens vorübergehend überlistet. Die Dinge müssen ganz einfach mit ihm geschehen. So oder so ähnlich ist es mir widerfahren; so viel oder so wenig kann ich davon berichten; Dich vorher davon in Kenntnis zu setzen, war unmöglich.
    Nebenbei sind die Dinge, die mit mir geschehen, kurios. Nicht nur, daß ich, statt in Tetschen zu bleiben, über die Grenze gefahren bin, nicht nur, daß ich, nach Bremerhaven geraten, wider Erwarten einen Platz schon auf dem nächsten Dampfer bekommen habe – nein, das ist noch nicht alles. Was glaubst Du, wer hier mit mir auf demselben Schiff fährt? Aber mir fallen die Augen zu. Ich bin zu müde, um jetzt weiterzuschreiben.
    Lieber Max!
    Guten Morgen. Von meinen Mitpassagieren wollte ich Dir erzählen. Du wirst womöglich auch das für einen Scherz halten, aber es handelt sich um Karl May und seine Frau. Wie ich Dir das beweisen soll, weiß ich nicht, vielleicht kann ich ein Autogramm des alten Herrn beilegen. Er und seine Gattin haben merkwürdigerweise einen Narren an mir gefressen; ich weiß gar nicht, wie ich mich ihrer okkupierenden Sympathie entziehen soll.
    Das war nämlich so: Ich war seekrank, das wird Dich nicht wundern. Das Gefühl ähnelt übrigens tatsächlich dem, das ich damals gehabt habe, als wir zwei, nach jener Abendgesellschaft, bei der ich aus Verlegenheit und Unbehagen zu viel getrunken hatte, noch einen Ausnüchterungsspaziergang auf den Laurenziberg machen wollten. Damals war allerdings Glatteis – erinnerst Du Dich? Daß ich in der Karlsgasse, in die ich, weiß der Teufel warum, vor dem Einbug zur Brücke noch ausweichen wollte, meiner ganzen Länge nach hinfiel, hatte auch damit zu tun. Danach, als Du mich wieder in die richtige Richtung gedreht hattest, mußte ich mich sehr zusammennehmen, durch mein ansteckendes Schwanken nicht sogar Karl IV. aus der Balance zu bringen. Aber daß er letzten Endes doch noch von seinem Sokkel gefallen ist, hast nur
Du
mir erzählt,
ich
habe ihn am nächsten Morgen ganz intakt auf seinem Platz stehen gesehen.
    Was Karl May betrifft, so ist er kein Standbild, sondern echt. Das ist beinahe zum Lachen, aber auch traurig. Unvorsichtigerweise habe ich, noch bevor ich gewußt habe, mit wem ich da rede, meine unglückliche Neigung zum Schreiben verraten. Das hätte ich nicht getan, hätte ich geahnt, was ich damit auslöse.
    May und seine Frau haben sich jedenfalls, wie man so sagt, auf rührende Weise meiner angenommen. Aber inzwischen habe ich mich an die Seekrankheit gewöhnt, fasse sie sozusagen als Normalzustand auf und bliebe lieber mir selbst überlassen. Über Literatur reden will ich nicht, und andere, von den Mays so genannte spirituelle Phänomene sind mir geradezu unheimlich. Frau May ist übrigens nett, aber ihre Weiblichkeit irritiert mich.
    Da fällt mir

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