Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henisch
Vom Netzwerk:
schreiben beabsichtige. Aber ich bitte Sie, hat er gesagt, das wäre doch bloß zum Zeitvertreib! – Was er sich vorstellt, wäre nicht mehr als ein Spiel. Zwischen zwei Menschen, die zufällig schreiben können. Wir könnten zum Beispiel so tun, als ob wir einen Amerikaroman im Sinn hätten. Was meinst Du? Soll ich mich darauf einlassen? May ist zwar ein bißchen verrückt, aber einem alten Mann eine kleine Freude zu bereiten, kann doch nicht falsch sein.
    Fangen Sie an, sagte May.
    Ich weiß nicht, ob ich das kann, sagte Kafka.
    Aber natürlich können Sies. Lassen Sie sich einen guten Eröffnungssatz einfallen.
    Als der sechzehnjährige (wie sollte er seinen Protagonisten bloß nennen? Franz? Nein: Karl –) Karl Roßmann …
    Ein hübscher Name, fand May.
    … der von seinen Eltern nach Amerika geschickt worden war … Also nein, ich glaube nicht, sagte Kafka, daß das Sinn hat.
    Wieso? fragte May. Der halbe Satz ist doch schon da!
    Also gut: Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt hatte … Nein, hören Sie, sagte Kafka, das ist mir peinlich. Schreiben ist etwas, das ich sonst ganz allein und mit gutem Grund in der Abgeschiedenheit der Nacht tue.
    Nehmen Sie unser Spiel nicht so ernst, sagte May.
    Na schön: Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte …
    Weiter!
    Also: Als dieser Roßmann in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr … Himmel Herrgott, ich weiß nicht, sagte Kafka, was dann war!
    Nun, sagte May, vielleicht erblickte er die Freiheitsstatue.
    Ah ja, sagte Kafka. Womöglich. Sogar wahrscheinlich. – Also: … erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
    Na sehen Sie, sagte May, das ist doch schon ganz gut. Auf eine Kleinigkeit muß ich Sie allerdings aufmerksam machen –: Die Freiheitsstatue, sooft ich sie bisher gesehen habe, hat noch nie ein Schwert in der erhobenen Hand gehalten, sondern immer eine Fackel.
    So? sagte Kafka. Der Einwand schien ihn nicht besonders zu beeindrucken.
    Na, egal, sagte May. Es ist ja nur ein Spiel. – Aber wie geht es weiter? Dieser Roßmann, sofern ihn die Einwanderungsbehörden durchlassen, geht drüben an Land …
    Und warum, bitteschön, sollten ihn die Einwanderungsbehörden
nicht
durchlassen? fragte Kafka.
    Junger Mann, sagte May, haben Sie noch nie etwas von der Quarantäne auf Ellis Island gehört?
    Oh, sagte Kafka.
    Ja, sagte May. Zum Beispiel bei Verdacht auf Tuberkulose …
    Vielleicht, sagte Kafka rasch, müßte Karl
nicht
dorthin.
    Verstehe, sagte May. Sie meinen, wir sollten ihm das ersparen. – Aber da müßte er schon eine gewaltige Protektion haben.
    Kafka zuckte die Achseln. Lassen wirs.
    Aber warum? fragte May. Vielleicht
hat
er die.
    Was?
    Die Protektion. Denken Sie nach! Hat er dort drüben vielleicht Verwandte?
    Nicht, daß ich wüßte.
    Vielleicht hat er den legendären Onkel in Amerika!
    Als Sohn armer Eltern?
    Immerhin können sich diese armen Eltern ein Dienstmädchen leisten.
    Kafka schwieg. Er bereute den obsessiven Einfall mit dem Dienstmädchen.
    Dieser reiche Onkel müßte allerdings auch ein einflußreiches Amt haben. Sagen wir Konsul, sagte May. Oder noch besser Senator.
    Meinetwegen, sagte Kafka. Die Geschichte gefiel ihm nicht besonders. Sie ließ sich an wie ein Kolportageroman.
    Also der Neffe, sagte May, hätte ganz vergessen, daß er diesen Onkel hat. Doch als das Schiff im Hafen von New York vor Anker geht, ließe sich sein großer Onkel, nennen wir ihn Jakob, in seinem Privatboot heran rudern.
    Kitsch, dachte Kafka. Er sah den Onkel in einem weißen Anzug. Am Bug des Bootes stehend, stützte er sich auf einen aus Bambus gefertigten eleganten Spazierstock. Zwar war er die Rettung des jungen Roßmann, aber er war ihm nicht wirklich sympathisch. Später (bei der Rückfahrt zum Land) würde er die rechte Hand unter Karls Kinn legen, nunmehr auf einer gepolsterten Bank im Boot sitzend, ihn überflüssig fest an sich pressen und mit einer etwas zudringlichen Linken streicheln.
    Dieser Onkel war ihm ein Ärgernis. – Immer noch ist Amerika das fabelhafte Goldland, in dem man rasch Schätze

Weitere Kostenlose Bücher